Die Finanzanalysten zwischen Dichtung und Wahrheit

Finanzanalysten: An der Börse werden sie schon mal verächtlich Geschmeiß- genannt. Anleger erwarten, dass sie so etwas wie Hellseher sind.

Im günstigsten Fall sind sie Fachleute. Und wenn sie auch noch Erfolg haben, sind sie eine wirkliche Rarität. Finanzanalyst kann sich nämlich (fast) jeder nennen.

Schon Endzwanziger, direkt von der Uni und per Schnellkurs angelernt, dürfen sich Internet-Analyst“ nennen. Wenn sie den Daumen heben oder senken, in ihren immer hastiger auf den Markt geworfenen Analysen etwas von akkumulieren, strong buy, underweighten, seil, Outperformer, Market Performer und Underperformer flüstern, beben Kurse, zittern oder frohlocken Manager, weil Investoren fast blind und umgehend den Empfehlungen folgen.

Früher waren sie die Erbsenzähler von Firmendaten, die Unternehmensdetektive im Auftrag ihrer Arbeitgeber, der Banken. Daten der Aktiengesellschaften gewichten, sie im Vergleich zum Kurs und der Branche werten. Das war ihr Job. Die Experten – kaum bekannt, aber meist erfahrene, ausgebuffte Bilanzprofis, die manch faulen Trick in der Bilanz entdeckten —, und das alles für ein mageres Gehalt.

Heute gehören Analysten zu den besser verdienenden Bankangestellten, bereits nach ein bis zwei Berufsjahren sind Gehälter von rund 100 000 Euro durchaus üblich. Gute Leute sind schwer zu bekommen, die Fluktuation ist hoch.

Finanzanalysten sind also Wertpapierfachleute, die ein möglichst genaues Bild über die Situation der Aktiengesellschaft und der Kurschancen ihrer Aktien zu gewinnen versuchen. Dies tun sie mithilfe der technischen Chartanalyse und der Fundamentalanalyse. Dann geben sie Empfehlungen, die Aktie zu halten, zu kaufen oder zu verkaufen. Mit ihrem Urteil können Finanzanalysten Kurse in die Höhe treiben oder aber auch einen Absturz auslösen.

Charts sind die Kurven, welche die Kursentwicklung einer Aktie nachzeichnen. Manchmal werden die Kurscharts auch mit den Börsenumsätzen der betreffenden Aktie kombiniert. Aus den Charts der Vergangenheit versuchen die Chartisten Trends für die Zukunft abzulesen.

Die Fundamentalanalyse beschäftigt sich mit fundamentalen Daten, die Einfluss auf die Kursentwicklung haben. Dazu gehören unternehmensspezifische und branchenspezifische Daten, aber auch allgemeine Konjunkturdaten. Der Fundamentalist versucht, damit die zukünftige Entwicklung der Aktiengesellschaft abzuschätzen und so einen realistischen Aktienwert für die Zukunft zu errechnen. Liegt dieser Wert über dem derzeitigen Aktienkurs, dann ist die Aktie unterbewertet, und der Analyst wird den Kauf empfehlen. Umgekehrt wird er bei einer überbewerteten Aktie zum Verkauf raten.

Unter den Finanzanalysten gibt es mehr fundamental orientierte und mehr charttechnisch orientierte. In der Praxis kommt aber keiner mit einer der beiden Analysetechniken allein aus, die Finanzanalysten benutzen immer eine Kombination aus beiden Methoden, aber eben mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Heute, bei den innovativen und schnelllebigen Kapitalmärkten, werden die Analysten als Börsengurus hoch gehandelt, sie sind die heimlichen Stars an der Börse. Keine Börsensendung, kein Börsen- oder Anlegerblatt ohne sie und ihre Meinung. Eine boomende Gilde toller Hechte.

Die Verdichtung der Prognosen in den Medien ist unverantwortlich“, klagt die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Anlageberatung (DVFA), der Berufsverband der 1200 Kapitalmarktexperten, die mit ihren heiß gehandelten Tipps/Prognosen/Empfehlungen noch nie so danebengehauen haben wie im Jahr 2000.

Vor allem im Zusammenhang mit den Wirren am Neuen Markt sind die Finanzanalysten ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Sie lagen mit ihren Empfehlungen und Prognosen immer häufiger absolut falsch. Und sie scheinen allzu oft nicht unabhängig zu urteilen, sondern eher im Interesse ihres Arbeitgebers, der Bank, ganz besonders bei den Neuemissionen am Neuen Markt.

Die Empfehlungen lauten nämlich meist kaufen (75 Prozent!), wie eine Studie ergab. Kein Wunder, meinen Sie? Denn: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing? Weil die Analysten der Researchabteilung dem Kundenressort der Banken nicht die Geschäfte vermasseln dürfen? Alles übertrieben, kontert die Guru-Lobby, denn: Kundeneinheiten und Research würden überall voneinander unabhängig geführt und der Fluss sensibler Informationen zwischen diesen durch Chinese Walls verhindert. Das schreibe auch das Wertpapierhandelsgesetz (§ 32/33) vor.

In der Praxis funktioniert das jedoch eher nicht. Wenn der Analyst eine Aktie negativ beurteilt und der Berater am Banktresen kann sie gut verkaufen, weil er einen Kunden hat, der scharf darauf ist, wird dieser wohl kaum in diesem Moment die Studie aus der Schublade zieht und sagen: Unsere Analysten raten aber davon ab. Der Analyst macht seine Gutachten sicherlich neutral. Aber was dann mit neutralen Gutachten weiter passiert, wenn die weitergereicht und interpretiert werden oder wenn man sie einfach in der Schublade lässt, wer weiß das im Einzelfall?

Aber das Entscheidende ist ja, dass drei Viertel der Empfehlungen der Analysten Kaufempfehlungen sind. Weil aber der Investor offensichtlich der Meinung ist, dass das nicht ganz stimmen kann, richtet er sich komischerweise nicht danach.

Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Analystenstudien sagt: Verkaufen. Und danach richten sich die Investoren dann wiederum sehr stark. Beim Kaufen hat man also Bedenken, weil man davon ausgeht, dass die Analysten vielleicht befangen sind, aber beim Verkauf, da ist man sofort bei der Sache.

Manche Merkwürdigkeiten im Jahre 2000 (so war EM.TV noch kurz vor der folgenschweren Gewinnwarnung einen Kauf wert!) deuten eher auf Schweizer Käse als auf die chinesische Mauer hin. Die Analysten haben die Kursstürze am Neuen Markt nicht vorausgesehen und Pleiteunternehmen wie Gigabell und die Teamwork Information Management AG bis kurz vor ihrem Absturz hoch gelobt.

Ganz abgesehen von der Qualität der Empfehlungen: Immer mehr unerfahrene Analysten erhalten Verantwortung, dürfen Empfehlungen abgeben. Es gibt keine Regeln, keine Qualitätskontrollen, nur Standesrichtlinien für die DVFA-Mitglieder. Alles weit entfernt von den Spielregeln in den USA und auch in London, wo die Leistungen der Analysten regelmäßig abgefragt und in einem Ranking aufgelistet werden. Wer in London Finanzanalyst lernt, der muss dort eine Zunftprüfung ablegen, ähnlich wie hier bei der DVFA – hierzulande ist sie allerdings nur eine Kann-Vorschrift, in England dagegen ein Muss.

Sicher: Ein Analyst darf (§14 Wertpapierhandelsgesetz) nur öffentlich bekannte Tatsachen verwenden. Hätte er andere Informationen und verwertet sie, macht er sich eventuell strafbar (Insidervergehen). Aber bitte, ein wenig mehr an Informationen, Treffsicherheit und weniger Überraschungen (Die Höhe der Verluste hat uns total überrascht) dürfte man bei Profis schon erwarten.

Dass eine Investmentbank noch Ende Oktober einen Halbleiterhersteller am Neuen Markt auf die Empfehlungs-, also Kaufliste setzt, um ihn sechs Wochen später nach einer Gewinnwarnung drastisch abzustufen (Market Underperformer), hat die Aktie um über 60 Prozent im Kurs gebeutelt und die Glaubwürdigkeit der Zunft der Analysten weiter erschüttert. Analysten haften nicht bei fehlerhaften Empfehlungen. Nach Berechnungen von Capital haben im Jahr 2000 Anleger, die auf Börsenneulinge am Neuen Markt setzten, 3,9 Milliarden Euro verloren. Allein die beiden großen Börsengänge von T-Online und Lycos Europe wiesen zum Jahresende 2000 einen Wertverlust von 2,1 Milliarden Euro auf. Irrungen und Wirrungen – noch nie gab es sie so häufig wie im Jahr 2000. Also: Trau, schau, wem? Antwort: Der beste Analyst ist der Anleger selbst!

Analysten im Vergleich
Um die Qualität der Empfehlungen zu überprüfen, verglich der Londoner Informationsdienst AQ Publications den von den führenden Analysehäusern geschätzten Gewinn je Aktie von insgesamt 88 europäischen Blue Chips (Telebörse 32/2000). Über einen Zeitraum von fünf Jahren stellte er die Prognosen den tatsächlichen Ergebnissen gegenüber und ermittelte daraus den Genauigkeitsquotienten AQ. Ein hoher AQ bedeutet geringe Abweichungen und seltene Korrekturen der Vorhersagen, ein niedriger Wert entsprechend ungenaue Prognosen und häufige Änderungen. Bei der Treffgenauigkeit der Analysten ergaben sich große Unterschiede. Sieger war die BfG Bank mit einem AQ von rund 36, wobei sie ihren Erfolg damit begründet, dass man sich bei der Analyse nur auf wenige Aktien konzentriert. Um die könne man sich dann auch besonders gut kümmern, das erhöhe die Treffergenauigkeit.

Es folgten JP Morgan Securities und die Baden-Württembergische Bank mit einen AQ von jeweils rund 31. Mit Werten von 29 bis 20 belegten Merck Finck & Co, Merrill Lynch, HypoVereinsbank, MM Warburg, Deutsche Bank, UBS Warburg, WestLB Panmure, BNP Paribas, Salomon Smith Barney, Commerzbank und HSBC Securities das Mittelfeld. Danach folgten Julius Bär mit 18, Sal. Oppenheim mit 17, Lehman Brothers mit 16 und die DG Bank mit 15.

Im Auftrag des Manager Magazin  testet Reinhart Schmidt vom Lehrstuhl für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre an der Universität Halle- Wittenberg regelmäßig die Qualität von Aktienempfehlungen deutscher Banken. In der 2000 veröffentlichten Untersuchung erfasste er 10 798 Kauf- und Verkaufsempfehlungen von Analysten aus 17 deutschen Kreditinstituten zwischen Juli 1998 und Juni 1999- Es ging ihm dabei nicht nur um die Rendite, sondern in erster Linie um die Begrenzung des Risikos. Bei den DAX-Empfehlungen siegte das Team der Hamburger Sparkasse. Sie ist das einzige Geldhaus, das den DAX geschlagen hat. Sowohl den Nemax All-Share, als auch den M-DAX und den Stoxx 50 konnte kein Analyst schlagen.

Seit zwei Jahren geht es im Analysegeschäft so richtig rund. Immer schneller und immer umfassender müssen die Analysten ihr Urteil abgeben. Früher hatten sie in der Regel Monate Zeit, um das Unternehmen gründlich zu durchleuchten, heute muss ein Analyst etwa zwei Studien pro Monat produzieren.

Kein Wunder, wenn dabei die Qualität leidet. Wir Finanzanalysten

haben so kleine Augen, weil wir so wenig schlafen. Wir arbeiten 13, 14, 15 Stunden pro Tag, hat mir einmal einer gesagt.

Quartalsberichte werden überbewertet an der Börse

Q ist mittlerweile der wichtigste Buchstabe im Börsenalphabet. Nein, das hat nichts mit Quiz zu tun, sondern steht für Quartal. Wenn über die Nachrichten-Bildschirme Q-Zahlen laufen, zucken DAX und Nemax zusammen. Nie waren sie so wichtig wie heute – oder werden dafür gehalten: Quartalsberichte.

Für die US-Börsen sind sie Alltag, für uns noch relativ neu. Strahlend gab der Chef der Deutschen Bank am 1. Februar die Rekordzahlen für 2000 bekannt. Alles im schwarzen Bereich, bis die Kollegen der Agentur Reuters aus dem 2000er-Zahlenwerk das letzte Quartal rauszogen. Und schau an: operativer Verlust beim Branchenführer. Sofort Schlagzeilen und heftige Spekulationen: Wie sieht’s denn beim Wettbewerb aus? An der Börse ein Schlag für den Kurs. Die schöne Schau der tollen Zahlen – alles umsonst. Die PR-Abteilung muss sich vor Wut irgendwohin gebissen haben.

Nächstes Beispiel: Motorola, nach Nokia größter Handyproduzent, schreibt rote Zahlen im ersten Quartal. Riesenaufregung an den Börsen: Geht der Handyboom zu Ende? Dann müssten auch alle Zulieferer Probleme haben! Die Folge: ein herber Kurseinbruch bei den führenden Hightechaktien.

Sicher, das letzte Quartal ist das aktuellste, weist grob den zukünftigen Weg. Und bestätigt die Urteile der Analysten (oder auch nicht).

SAP, ein DAX-Schwergewicht, wird aus den Depots der Fonds rausgekickt, um einen Tag später wieder eingekauft zu werden. Das kapieren viele Kleinanleger nicht, die mit der Devise Aktie ist Langfristanlage zum Kauf verführt wurden. Sie werden täglich durch solche Q-Dramen geschockt – und verlieren womöglich das Vertrauen in das Börsengeschehen. Eigentlich wollten wir die amerikanische Aktienhysterie beim Aufbau unserer Aktienkultur vermeiden. Und nun? Wie ein hypnotisiertes Karnickel starrt die Börse auf Q-Zahlen, Analysten heben und senken die Daumen – über Dreimonatszahlen, die die Unternehmen oft mühsam aufgemöbelt haben, damit ihnen die Börsen wohlgesinnt sind. Die Kurzschlussreaktionen der Börsen – sie haben viel mit dieser Q-urzsichtigkeit zu tun. Nur ein Unternehmen wollte partout nicht am Q-Zirkus teilnehmen. Nein, sagte Porsche, Quartalsberichte machen wir nicht!

Daytrading: Bungeespringen für Börsianer
Der Extremsport der Börsianer heißt Daytrading. Das ist eine Form des Wertpapierhandels, bei der in der Regel innerhalb eines Tages sämtliche Positionen eingehen und wieder aufgelöst werden. Man hört am Tagesende auf, egal ob man im Plus oder im Minus liegt. Ziel ist es, kleinste Kursveränderungen zu nutzen. Und da die Schwankungen bei Aktien in der Regel geringer sind, handeln Daytrader zumeist mit Futures und Optionen. Über elektronische Ordersysteme hat der Daytrader Zugriff auf alle aktuellen Informationen ohne Zeitverlust. Denn bei diesem Geschäft spielen Sekundenbruchteile eine Rolle, Zeitverzögerungen kann man sich nicht leisten.

Wer eine entsprechende technische Ausrüstung hat, kann direkt vom heimischen Computer aus daytraden. Die meisten gehen aber in so genannte Daytrading-Center, die die technische Ausstattung zur Verfügung stellen. Dort kann man sich für ein paar Stunden, einen Tag oder einen ganzen Monat einen Handelsplatz mieten. Die Monatsmiete dafür beträgt etwa 750 bis 1 000 Euro im Monat, hinzu kommen die Gebühren für jede einzelne Transaktion.

Daytrader gucken nur gespannt auf die Charts und handeln sehr schnell, ohne viel Hintergrundwissen anzusammeln. Daytrading muss man lernen. Die meisten Daytrading-Center bieten Schulungen und Probe-Daytrading an. Dann kann man virtuell mit fiktiven Wertpapieren üben, bevor man richtig loslegt. Inzwischen gibt es auch einige spezielle Seminaranbieter, die sehr gut verdienen. In Deutschland zahlt man für ein Grundprogramm etwa 3 500 bis 4 000 Euro, hinzu kommen eventuelle betreute Trainingstage mit je 500 Euro. In den USA kostet eine Ausbildung zum Daytrader bis zu 35 000 Dollar. Mittlerweile gibt es in Deutschland drei Direktbanken, bei denen das Daytrading in vollem Umfang online, also von zu Hause über den PC möglich ist: Consors, ComDirectbank und Direktanlagebank.

In den USA gibt es bereits mehr als 50 000 klassische Daytrader, in Deutschland werden sie auf etwa 5 000 geschätzt. Daytrading ist ein hoch spekulatives Geschäft, man kann innerhalb eines Tages sehr schnell und sehr viel Geld verdienen, aber ebenso schnell auch verlieren. Wer mindestens 25 000 Euro als Spielgeld zur Verfügung hat, der kann Daytrading als Hobby anfangen. Wer aber davon leben will, braucht mindestens 50 000, besser sind 250 000 Euro. Wie hoch ist das Risiko? 15 bis 30 Prozent aller Daytrader verdienen Geld, der Rest verzockt es. Also lautet der Rat: Finger weg vom Daytrading.

Zusammenfassung
GEM-Projekts Global Equity Market. Zwischen zehn Börsen der Welt (von New York über Tokio und Hongkong, Australien, Mexiko bis zum europäischen Euronext) soll ein Netz installiert werden. Dann wird der Anleger in Paris (Euronext) mitten in der Nacht in den USA, Australien oder in Frankreich notierte Aktien zu ein und denselben Konditionen kaufen oder verkaufen können. Gut, da gibt’s noch Hürden wie unterschiedliche Regeln und Bilanzierungsvorschriften. Und bisher ist außer der Ankündigung im Sommer 2000 noch nichts passiert. Aber die 24- Stunden-Börse wird kommen, eine einzige Weltbörse also. Fein für die Anleger: hier das kleine Spezialitätenprogramm der Regionalbörsen, da die Aktien der großen weiten Welt. Und jeder predigt, die größere Kundennähe mit noch attraktiveren Konditionen auf seiner Seite zu haben. Die Börsen im Umbruch: Das ist spannend, aufregend und hat (endlich) enorme Vorteile für den Privatanleger. Er wird der eigentliche Nutznießer sein.