Realitätscheck für die Energiewende: Deutschland prüft Versorgung, Preise und Planung neu
Berlin – Die deutsche Bundesregierung plant eine umfassende Neubewertung ihrer Energiepolitik. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche kündigte am Mittwoch auf einer Konferenz des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Berlin an, dass das gesamte System – von Strombedarf über Versorgungssicherheit bis hin zu Preisgestaltung – kritisch geprüft werde. Die sogenannte Energiewende soll auf ihre Alltagstauglichkeit hin untersucht werden.
„Was wir bisher zu wenig berücksichtigt haben, sind die tatsächlichen Systemkosten. Das holt uns jetzt ein“, sagte Reiche in ihrer Grundsatzrede. „Wir wollen ehrlich Bilanz ziehen – ob unsere derzeitigen Pläne dem gerecht werden, was Menschen und Unternehmen brauchen.“
Ein Energiesystem im Umbruch – und unter Druck
Der Druck auf die Regierung ist hoch. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine musste Deutschland seine Energieversorgung innerhalb kürzester Zeit neu aufstellen. Jahrzehntelang hatte das Land auf günstiges russisches Erdgas gebaut. Plötzlich war diese Option vom Tisch – und mit ihr die vermeintliche Planbarkeit.
Was folgte, war ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien, der zwar ambitioniert ist, aber nicht immer gleichmäßig vorankommt. Windkraftprojekte verzögern sich, Solarstrom ist nicht rund um die Uhr verfügbar, Stromtrassen fehlen. Gleichzeitig steigen die Energiepreise – für viele Haushalte, aber auch für die Industrie – auf teils schmerzhafte Höhen. Deutschland zählt heute zu den Ländern mit den höchsten Energiepreisen in Europa.
Was genau soll nun überprüft werden?
Reiche zufolge plant das Wirtschaftsministerium eine umfassende Analyse in mehreren Bereichen:
Stromnachfrage der Zukunft: Wie viel Energie wird Deutschland in den nächsten Jahren tatsächlich brauchen – angesichts wachsender Elektromobilität, Digitalisierung und Wärmewende?
Sicherheit der Versorgung: Wie krisenfest ist unser Stromnetz, wenn Wind und Sonne einmal nicht liefern?
Netzausbau und Speicher: Kommen die geplanten Infrastrukturprojekte schnell genug voran?
Kostenverteilung und soziale Fairness: Wer trägt die Belastung – und wie können Bürgerinnen und Bürger gezielt entlastet werden?
Kurzfristige Entlastungen und langfristige Weichenstellungen
Bereits in den kommenden Wochen will die Bundesregierung Maßnahmen auf den Weg bringen, die direkt bei den Menschen ankommen. Noch vor der Sommerpause soll das Kabinett über eine Senkung der Stromsteuer entscheiden – ein politisches Signal mit hoher Wirkung. Außerdem sollen die Netzentgelte, also die Gebühren für die Nutzung der Stromleitungen, spürbar reduziert werden.
Flankierend dazu plant die Koalition, neue Gaskraftwerke zu fördern. Sie sollen als Brücke dienen – als flexible Reservekraftwerke, wenn Wind und Sonne nicht ausreichen. Ziel ist es, bis zu 10 Gigawatt an zusätzlicher Gaskapazität zu schaffen. Hierzu werden derzeit Ausschreibungsmodelle mit der EU-Kommission diskutiert. Die erste Vergaberunde soll noch vor Ende des Jahres starten.
Ein offener Technologiepfad – ohne politische Vorlieben
Reiche betonte, dass es keinen technologischen Dogmatismus geben dürfe. „Wir wollen keine bestimmte Technologie bevorzugen – entscheidend ist, dass sie sauber, effizient und wirtschaftlich tragfähig ist.“ Ob Wasserstoff, Biogas, Stromspeicher oder regelbare Kraftwerke – jede Lösung, die zur Stabilität beiträgt, solle eine faire Chance bekommen.
Das Ziel: ein verlässliches und bezahlbares Energiesystem
Langfristig, so Reiche, müsse Deutschland ein Gleichgewicht schaffen zwischen Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. „Nur wenn unser Energiesystem fair, transparent und marktwirtschaftlich funktioniert, wird es Akzeptanz finden – nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Bevölkerung.“
Die große Frage bleibt, ob dieser Realitätscheck rechtzeitig kommt. Denn während die Politik neu rechnet und plant, spüren viele Bürgerinnen und Bürger die Folgen bereits konkret: steigende Nebenkosten, stagnierende Investitionen in energieintensive Branchen und Unsicherheit, wohin die Reise eigentlich geht.