Die Gewerkschaften hatten allen Grund, zufrieden zu sein: Nach zähen Verhandlungen hatten sich die Arbeitgeber der Baubranche bereit erklärt, ihren Mitarbeitern zusätzlich zum Lohn die Sparbeiträge für die staatlich geförderten vermögenswirksamen Leistungen (damals besser bekannt als 312-DM-Gesetz) zu zahlen. Die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden feierte diesen Erfolg als Durchbruch. Doch in der Praxis ergaben sich unversehens Probleme von ganz anderer Seite: Viele Banken weigerten sich, für die Bauarbeiter unter ihren Kunden entsprechende vermögenswirksame Sparkonten zu eröffnen – zu viel Aufwand, zu geringe Margen. Peanuts eben.
Georg Leber, der damalige Chef der Baugewerkschaft und spätere Bundesverteidigungsminister, stand vor einem Problem: Was tun, wenn sich die Geldinstitute dauerhaft weigern sollten, vermögenswirksame Sparkonten zu eröffnen? Leber löste diese Herausforderung ganz pragmatisch und gründete gemeinsam mit der gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft ein neues Kreditinstitut. Im Oktober 1965 nahm die Bank für Spareinlagen und Vermögensbildung (BSV) ihre Geschäftstätigkeit auf – in einem Frankfurter Hinterzimmer. Es war eine Bank ohne Banker. „Wir hatten hier Schuster und Schreiner. Sogar ein Artist war dabei“ erinnert sich Marlene Mauer, eine der Mitarbeiterinnen der ersten Stunde. Sie war gerade mal 15 Jahre alt, als sie am 1. April 1966 bei der BSV an- fing. „Wir arbeiteten damals in so einem Erfassungszimmer, Loch raum hieß das. Dort haben wir die vermögenswirksamen Sparbeiträge in die Rechenmaschine eingetippt: Kontonummer, Betrag, Kontonummer, Betrag. Das hat die Maschine dann eingestanzt. Unten heraus kamen blaue Lochstreifen“, berichtet Marlene Mauer aus den Pionierzeiten des Direktbanking.
Sie führte zunächst ausschließlich vermögenswirksame Sparkonten, doch immerhin war die BSV die erste filiallose Bank in Deutschland. Ein interessantes Experiment: Konnte das Bankgeschäft ohne Filialen funktionieren? Damals noch für viele unvorstellbar. Die übermächtigen Konkurrenten am Finanzplatz Frankfurt belächelten denn auch die „Leber-Bank“, wie sie in Anspielung auf ihren Gründer genannt wurde. Die Presse kam allerdings zu einem differenzierteren Urteil: Die Zeitungen schrieben von einem „Paukenschlag“ (Neue Presse) und davon, dass nun das „Wettrennen um die Vermögensbeiträge“ (Handelsblatt) eröffnet sei. Und schon Anfang 1966 – also gerade einmal ein Vierteljahr nach Gründung der etwas unkonventionellen Bank – konstatierte die Monatszeitschrift „Junge Wirtschaft“: „Im Bankgewerbe hat das Vorhandensein dieser Bank wie der berühmte Hecht im Karpfenteich gewirkt. In den ersten beiden Monaten seit der Gründung der Bank haben sich die Anlagebedingungen für kleine Sparbeiträge verbessert. Auch jene Institute, die noch Vorjahresfrist entschieden gegen jede Vermögensbildung durch Tarifvertrag protestiert haben, bemühen sich jetzt eifrig um die Sparbeiträge der Arbeitnehmer.“ Vielleicht gehört es zu den Erfolgsgeheimnissen der Direktbanken, dass sie von der etablierten Konkurrenz von Anfang an unterschätzt wurden.
Dennoch blieb Deutschlands erste Bank ohne Filialen ungeachtet ihrer bemerkenswerten Erfolge ein Provisorium. Von einem zukunftsträchtigen Geschäftsmodell konnte noch keine Rede sein, was nicht zuletzt an den eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten lag. Damals hatten nur wenige Haushalte ein Telefon und so mussten die Bankgeschäfte per Brief abgewickelt werden. Im Fall der BSV funktionierte das so: Bei Kontoeröffnung erhielt der Kunde per Post ein rotes „Versand-Sparbuch“. Es folgten zweimal jährlich gelbe Kontoauszüge. In der Auszahlungsphase konnte der Kunde auf der Rückseite dieser Auszüge die gewünschte Summe abrufen. Manche indessen zogen es vor, zum Sitz der Briefbank nach Frankfurt zu reisen und sich das Geld dort bar auszahlen zu lassen, was an manchen Tagen zu wahren Menschenschlangen vor dem Gebäude der BSV führte.
Die anfangs eher belächelte erste Direktbank wuchs in den Folgejahren rapide. Im Jahr 1973 verwaltete das Institut bereits eine Million Konten. Drei Jahre zuvor hatte die BSV mit der Baufinanzierung begonnen. Heute erinnern sich nur noch wenige an diesen Direktbanking-Pionier. Aus dieser Keimzelle entwickelte sich nach einer höchst wechselvollen Geschichte die ING-DiBa – heute die größte Direktbank in Europa.
Zu den Pionieren des filiallosen Bankgeschäfts gehört darüber hinaus die Augsburger Aktienbank, die im Jahr 1966 gegründet wurde. Auch dabei handelte es sich um eine reine Briefbank, die sich ausschließlich an Privatkunden richtete. Die Direktbank aus der Fuggerstadt bietet bis heute vor allem standardisierte Sparprodukte an.
Geschäfte per Post abzuwickeln, das war für die Bundesbürger in den 1960er- und 1970er-Jahren keineswegs ungewöhnlich. Große Versandhäuser wie Quelle, Otto und Neckermann erlebten einen regelrechten Boom. Das filiallose Bankgeschäft indessen blieb – trotz stetig wachsender Kontenzahlen – ein Nischenangebot für einfache Sparprodukte oder Kleinkredite. Alles andere erledigten die Kunden in der nahe gelegenen Bankfiliale. Die Auswahl des Kreditinstituts erfolgte dabei überwiegend nach ganz pragmatischen Gesichtspunkten: Wer als Berufsanfänger ein Girokonto eröffnen wollte, entschied sich entweder für eine Filiale in der Nähe des Wohnortes oder wählte das Institut, bei dem bereits seine Eltern ein Konto unterhielten.