Im Dezember 2001 versammelten sich Tausende von Menschen im Zentrum von Buenos Aires auf der Plaza de la mayo, wo früher – unter der mörderischen Diktatur der Generäle – sich die Mütter trafen, um gegen die Verschleppung und Ermordung ihrer Söhne und Töchter zu protestieren. Wie damals, in den letzten Tagen des Militärregimes, hatten sie Kochtöpfe, Trillerpfeifen und Sirenen mitgebracht.
Mit der schrillen Kakophonie wollten die Demonstranten auf ihre katastrophale wirtschaftliche Lage aufmerksam machen. Nach vier Jahren Rezession waren die Menschen in einer hoffnungslosen Situation: Jeder dritte Argentinier im erwerbsfähigen Alter war arbeitslos, das öffentliche Gesundheitswesen kollabierte, die Gehälter von Staatsbediensteten sowie die Renten waren gekürzt worden. Viele Familien lebten bereits unterhalb der Armutsgrenze. Die Preise für Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs stiegen immer schneller. Als dann noch die Regierung des angeschlagenen Präsidenten Fernando de la Rüa am 1. Dezember 2001 die Sparguthaben einfrieren ließ und jedem Argentinier nur Barabhebungen von 1.500 Pesos (952 Euro) pro Monat gestattete, schlug der Frust der Menschen in Wut um. Der Generalstreik, zu dem am 12. und 13. Dezember 2001 die Opposition und die Gewerkschaften aufgerufen hatten, der achte innerhalb von zwei Jahren, eskalierte. Bankfilialen und Autos gingen in Flammen auf, Straßenblockaden legten den gesamten Verkehr lahm.
Seitdem gab es mehr als 1.600 solcher Blockaden und im Juni 2002 weitere Tote. Die Polizei hatte zwei arbeitslose Demonstranten beim Errichten einer Straßensperre erschossen. Doch an der verzweifelten Situation des Landes hat sich nichts geändert. Argentinien ist pleite, Staatsschulden von 142 Milliarden Dollar haben de la Rua und sein Vorgänger Carlos Menem an- gehäuft. Die Wirtschaft schrumpft seit 1999. Allein in diesem Jahr wird sich das Bruttoinlandsprodukt um wenigstens zehn Prozent verringern, prognostizieren Konjunkturforscher vom Institut der Deutschen Wirtschaft. Der argentinische Peso verlor im Verhältnis zum Dollar im ersten Halbjahr 2002 rund 75 Prozent seines Wertes.
Fatale Wechselkursbindung
Begonnen hatte der Abstieg Argentiniens jedoch schon vor zehn Jahren, als der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Domingo Cavallo, ein Absolvent der renommierten amerikanischen Harvard Universität, auf Empfehlung des Internationalen Währungsfonds die argentinische Landeswährung, den Peso, an den Dollar koppeln ließ. Fortan entsprach ein argentinischer Peso einem US-Dollar. Dank dieser Verankerung konnte der Wechselkurs der Währung des Schwellenlandes Argentinien zunächst stabilisiert und die Inflation gebremst werden. Der IWF bestand aber auch auf den Abbau der Zollschranken und der Öffnung des argentinischen Marktes bei einem anhaltend hohem Zinsniveau und Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Dieses Maßnahmebündel zur Strukturanpassung an die internationale Finanzwelt führte das südamerikanische Land schnell in eine schier endlose Abwärtsspirale. Nachdem Argentinien durch die Dollarbindung zum Hochwährungsland geworden war, wurden die Märkte mit billigen Importen aus den Nachbarstaaten überschwemmt. Die einheimischen Produzenten waren nicht mehr wettbewerbsfähig und mussten ihre Betriebe schließen, die Investitionen gingen zurück, die Arbeitslosenrate stieg, die Steuereinnahmen des Staates schrumpften und die Ausgaben für Bildung und Sozialleistungen wurden immer stärker zusammengestrichen. Die Sparquote, die in den lateinamerikanischen Staaten schon in normalen Zeiten deutlich unter der ostasiatischen lag, fiel weiter zurück, Regierung und Wirtschaft wurden immer abhängiger von Geldzuflüssen aus dem Ausland.
Zudem schafften die Wohlhabenden ihre Vermögen, die sie im Verhältnis eins zu eins in Dollar tauschen konnten, ins Ausland. Mittlerweile sollen argentinische Guthaben im Wert von 100 bis 150 Milliarden Dollar auf Konten jenseits der argentinischen Landesgrenzen liegen, das Geld urlaubt in Miami, vermutlich für immer, kommentierte der MIT-Ökonom Rüdiger Dornbusch die Kapitalflucht der argentinischen Geldelite. Das entspricht nach groben Schätzungen ungefähr der Summe, mit der der Staat bei ausländischen Geldgebern verschuldet ist.
Beschleunigt wurde Argentiniens Talfahrt allerdings noch durch die im Land grassierende Korruption und Günstlingswirtschaft. So wurden zwar den IWF-Rezepten folgend die früheren Staatsbetriebe privatisiert, doch zum Zuge kamen entweder enge Freunde der amtierenden Regierungschefs oder aber – wie im Fall der staatlichen Telefongesellschaft EN-Tel – ausländische Wettbewerber, die französische Telecom und die spanische Telefonica. Unter den neuen Eigentümern teilte die argentinische Regierung den Markt so auf, dass jeder wie ein Monopolist seinen Bereich beherrschen kann. Die Genehmigung für Tariferhöhungen lieferte die Regierung gleich mit.
Doch nicht einmal die Privatisierungserlöse sollen in voller Höhe der Staatskasse zu Gute gekommen sein. Was dort abgeliefert wurde, war so wenig, dass die für die Privatisierung verantwortlichen Minister entweder besonders dilettantisch verhandelt hatten, oder aber nur ein Teil des Verkaufserlöses offiziell ausgewiesen wurde, der Rest dürfte – so vermuten argentinische Journalisten – in die Taschen der Regierenden oder ihrer Beamten geflossen sein. Gegen etliche Politiker und Funktionäre ermittelt die Staatsanwaltschaft, in manchen Fällen mit Unterstützung des amerikanischen FBI.
Erhöhter Rückstellungsbedarf
Die seit Jahren offenkundigen Missstände und die Ausbeutung der Bevölkerung durch ihre eigene politische Klasse haben ausländische Banken in der Vergangenheit offenbar nicht davon abgehalten, die rücksichtslose Wirtschaftspolitik des korrupten Staates mit hohen Krediten zu unterstützen. Jetzt müssen sie ihre Engagements abschreiben. Zu den größten Geldgebern des Landes gehören amerikanische Institute wie die Citigroup (bisherige Verluste: rund 2,2 Milliarden Dollar), die Fleet Boston Banking Corporation (1,1 Milliarden Dollar), die als eigenes Tochterinstitut die Bank Boston in Argentinien unterhält, JPMorgan (411 Millionen Dollar) und die Kanadische Bank of Nova Scotia (540 Millionen Dollar). Von den europäischen Banken zählen die spanischen und italienischen Institute zu den größten Verlierern: Die Banco Bilbao Vizeaya Argentaria hat Wertberichtigungen von 947 Millionen Dollar vornehmen müssen, die Banco Santander Central Hispano bereits 1,2 Milliarden Dollar abgeschrieben. Die Credit Suisse Group versenkte in Argentinien 213 Millionen Dollar.
Die deutschen Banken sitzen in Argentinien nach eigenen Angaben zwar nicht in der ersten Reihe. Genaue Ziffern werden auch nicht genannt, aber die Rückstellungen zur Risikovorsorge wurden in diesem Jahr bereits deutlich erhöht – bei der Deutschen Bank sogar verdoppelt. Grund dafür sei neben der Argentinienkrise allerdings auch – wie der Geldkonzern mitteilte – die gestiegene Anzahl von Firmenpleiten in Deutschland.
Einen Ausfall der besonderen Art hat allerdings die HypoVereinsbank zu beklagen. Ihre Tochtergesellschaft im Steuerparadies Cayman Islands ist zahlungsunfähig. Für 400 Anleger in Argentinien, Investoren in den USA sowie einige Banken, hatte die BII Creditanstalt International über ihre Tochter Banco B.I. Creditanstalt in Buenos Aires insgesamt 400 Millionen US-Dollar in argentinische Staatsanleihen und Unternehmenskredite investiert, diese Investments sind jetzt wertlos. Doch mit dem Totalverlust ihres Einsatzes wollen sich die Investoren nicht ohne weiteres abfinden. Sie werfen der Bank vor, sie habe keine ausreichende Risikostreuung vorgenommen, und lassen in Europa derzeit schon mal eine Klage gegen die HypoVereinsbank prüfen.
Die deutsche Muttergesellschaft weist die Vorwürfe zurück: Jeder Anleger wusste genau, welches Risiko mit seinen Hochzinsanleihen verbunden ist, erklärte die Presseabteilung der bayrischen Bank. Über einen Konkursverwalter ließ die HypoVereinsbank aber einen Kapitalabschlag von 40 Prozent und eine Rückzahlung über fünf Jahre anbieten. Damit sei es der BII gelungen, ihre Anleger vor einem Totalschaden zu schützen, was nicht viele argentinische Kreditinstitute von sich behaupten können, ließ die Bank dazu erklären.
Das mag wohl stimmen, denn auch in Deutschland bangen viele Investoren um ihr Kapital, dass sie in Argentinien-Anleihen investiert haben. Rund 72 Prozent der Auslandsschulden des argentinischen Staates sollen als Bonds ausgegeben worden sein. Und diese Geldanlagen wurden vielen Investoren wegen der hohen Zinsen besonders empfohlen. Rund 20 Milliarden Euro seien allein in Deutschland ausgegeben worden, erklärt Stefan Engelsberger, der bereits die Interessengemeinschaft Argentinien (IGA) für frustrierte Anleger gegründet hat.21 Die IGA fordert nun die Argentinische Regierung auf, unverzüglich den Schuldendienst wieder aufzunehmen. Außerdem verlangt sie vom Internationalen Währungsfonds, dass er sicherstellen solle, dass auch die privaten Anleihebesitzer berücksichtigt werden. Hilfen für Argentinien sollte der IWF nur dann gewähren, wenn sich die dortige Regierung zu einer geordneten und transparenten Schuldenumstrukturierung verpflichte. Per Brief bat der IGA-Gründer Engelsberger auch den deutschen IWF-Gouverneur, Bundesbank-Präsident Ernst Welteke, und Bundesfinanzminister Hans Eichel, sich für die Belange der deutschen Argentinien-Anleger beim IWF einzusetzen. Auch ein Rechtsgutachten hat die Interessengemeinschaft der geprellten Anleger bereits in Auftrag gegeben.
Doch längst geht es Banken und IWF nicht nur um das zerrüttete Tango-Land. Es wächst die Angst, dass die gesamte Region, allen voran Brasilien, in den Strudel der Argentinien-Krise hineingezogen werden und untergehen könnte. Mit erheblich schwereren Folgen für die internationale Finanzwelt. Auch deshalb wächst der Druck auf den Währungsfonds, die Argentinier wieder on track – wie es im Jargon des Fonds heißt – zu bekommen. Noch im Juli 2002 konnte IWF-Chef Horst Köhler, der vor seinem Wechsel nach Washington Präsident des deutschen Sparkassenverbands und davor als Staatssekretär im Finanzministerium einer der wichtigsten Berater des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl war, nur berichten, dass die jüngsten Gespräche mit der argentinischen Regierung ermutigend verlaufen seien. Die vier wesentlichen Bedingungen des Fonds seien aber noch nicht erfüllt. Noch immer gebe es keine Lösung, wie die weitgehend autonomen Provinzregierungen in die Konsolidierung des Staatshaushalts eingebunden werden sollen und Fortschritte bei rechtlichen Problemen, beispielsweise beim Insolvenzrecht, seien auch nicht erzielt worden. Außerdem sei die Handlungsfähigkeit der Banken noch nicht wieder hergestellt und die Unabhängigkeit der argentinischen Zentralbank nicht gesichert. Um weiteren Druck zu machen bat der deutsche IWF-Chef Horst Köhler seinen ehemaligen Ziehvater, den Ex-Bundesbank-Präsidenten Hans Tietmeyer,in Buenos Aires nach dem Rechten zu sehen. Begleitet wurde Tietmeyer, der sich in seiner Amtszeit als oberster deutscher Währungshüter einen Namen als Tehtmeyer, als strikter Stabilitätspolitiker, gemacht hatte, von dem Chef der Internationalen Ausgleichsbank Andrew Crockett und den ehemaligen Notenbankpräsidenten Kanadas und Spaniens, John Crow und Angel Rojo.
Selbst wenn es dem in der Finanzwelt angesehenen Seniorenquartett gelingen sollte die argentinische Regierung auf IWF-Kurs zu bringen, eine Besserung der Lage für die darbende Bevölkerung ist nicht in Sicht. Auch dem neuen Beratergremium wird es in erster Linie um die Sicherung der Interessen der internationalen Banken und Finanzinstitute gehen. Die Nöte der Bevölkerung haben auf der Agenda des Fonds schon lange keinen Platz mehr. Da können die Argentinier pfeifen und trommeln so viel sie wollen.