Bestes Beispiel für Schneiders Geschäftsprinzip und die Beihilfe der Banken ist die Zeil-Galerie in Frankfurt am Main. Les Facettes waren vom ersten Tag der Ausschreibung an umstritten. Immobilienexperten bezweifelten, dass sich das Gebäude mit Boutiquen, Fachgeschäften und Restaurants auf sieben Stockwerken überhaupt rechnen würde. Mehrgeschossige Ladengalerien ziehen keine Laufkundschaft an, das zeigten Beispiele aus anderen Großstädten. Wenn er das schafft, ist er der Größte, sagten die Skeptiker. Schneider steckte 250 Millionen € in den Luxusbau. Von der Deutschen Bank und ihrer Hypothekentochter Deutsche Centralboden AG bekam er gleichwohl 451 Millionen € Kredit auf das Objekt.
Dafür sorgte letztlich die Deutsche Bank. Hypothekenbanken dürfen nur Darlehen bis zu 60 Prozent des Objektwerts geben. Solche Hypotheken sichert die Bank mit festverzinslichen Pfandbriefen ab. Bis zu zehn Prozent ihrer gesamten Hypothekenkreditsumme darf sie dann noch als Zusatzfinanzierung auf von ihr ausgewählte Objekte draufschlagen. So können einige Projekte in voller Höhe finanziert werden. Gedeckt werden diese Darlehen durch ungesicherte Schuldverschreibungen, für die bei der Centralboden die Muttergesellschaft Deutsche Bank bürgen, im Bankjargon: eine Patronatserklärung abgeben muss.
Als Kaufpreis von Immobilien wie Einkaufspassagen und Bürohäusern in bester Lage galt Anfang der 90er Jahre, als die Planung der Zeil-Galerie begann, noch der 16 bis 17fache Satz der jährlichen Mieteinnahmen – 1994 lag der Multiplikator nur noch bei zwölf bis 13. Ursache dafür war die sinkende Nachfrage nach Laden- und Büroflächen, eine Folge der Wirtschaftskrise und auch des geänderten Steuerrechts. Skandinavier und Japaner hatten sich aus dem deutschen Immobilienmarkt zurückgezogen, nachdem sie seit Januar 1994 ihre in Deutschland erzielten Gewinne auch hier versteuern müssen. All das führte schließlich zu einem Überangebot an Gewerbeflächen und zu dramatischen Preiseinbrüchen.
Utopische Mieteinnahmen
Bei Les Facettes ging Schneider bei Baubeginn noch von einer Quadratmetermiete von 300 € aus. So viel mussten auch Besitzer von Boutiquen in der 300 Meter entfernten Goethestraße bezahlen. Im Frankfurter Flughafen wurden sogar bis zu 500 € pro Quadratmeter Ladenfläche verlangt. In Schneiders Galerie wurden aber nur etwa 75 € erzielt.
Die von Schneider für Les Facettes kalkulierten Mieteinnahmen waren aber nicht nur wegen der veränderten Marktlage reine Utopie. Zwar hatte die Galerie eine Bruttogebäudefläche von mehr als 20.000 Quadratmetern. Ohne Untergeschoss, Aufzüge, Lobby, Wege und sonstige Leerflächen blieben aber nur 9.000 Quadratmeter übrig. Wer das nicht erkannt hat, kann eben Bruttogebäudefläche und Nutzfläche nicht voneinander unterscheiden, sagte ein Manager der Deutschen Bank, als die Pannen offenkundig wurden. Denn die Kreditsumme wurde tatsächlich auf der Basis der Bruttogebäudefläche bewilligt. Zudem war die Lage der Galerie nicht gerade erstklassig. Die Frankfurter Zeil war zwar Deutschlands umsatzstärkste Einkaufsmeile, aber dort macht die Masse das Geschäft und nicht, wie etwa in der piekfeinen Goethe- Straße, die Klasse.
Diese Mängel hätten die Banker ohne große Mühe erkennen können, wenn sie sich je unters Einkaufsvolk gemischt hätten. Der kurze Spaziergang vom Bankenviertel zur Zeil-Galerie hätte sich möglicherweise ausgezahlt. 1994 war die Zeil-Galerie nur etwa 110 Millionen € wert. Wenn sich Schneiders 300-€-Mieten sowie der Multiplikator von 16 bis 17 aus Boomzeiten hätte realisieren lassen, würde der Verkaufspreis bei 550 Millionen € gelegen haben. Schneider und seine Finanziers haben darauf gesetzt, dass schnell eine Hausse kommt, und die Objekte dann in die beliehene Größenordnung hineinwachsen, meinte denn auch der Hamburger Immobilienunternehmer Robert Vogel.
Betrogene Banker
Weil die Baisse am Immobilienmarkt jedoch hartnäckig anhielt, musste Schneider das Rad immer schneller drehen. Er brauchte dringend neue Objekte, um an frisches Geld zu kommen und die alten Kredite bedienen zu können. So griff er in Leipzig, Hamburg und Berlin zu – immer nach seinem alten Grundsatz: nur beste Lage, nur mit dem Segen der Bürgermeister – und nur auf Pump.
Und weil das immer noch nicht reichte, wurde schließlich der Wert alter Immobilien nach oben korrigiert. Die Zeil-Galerie stand plötzlich mit knapp einer Milliarde € in Schneiders Bilanz. Solche Manipulationen erklären unbeteiligte Banker mit Panik. Wer in Not gerät, neigt auch zu Betrügereien, lautet ein goldenes Wort im Geldgewerbe. Bei der Deutschen Bank war es offenbar in Vergessenheit geraten. Vorstand Krupp sowie sein Kollege Ulrich Weiss, im Deutsche-Bank-Vorstand für die Mannheimer Filiale zuständig, die auch die Schneider-Kredite abwickelte, mussten sich die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich getäuscht wurden oder ob sie sich nicht einfach verspekuliert haben.
Merkwürdig fand Hessens Generalstaatsanwalt Schaefer auch die ersten Reaktionen der Banker. Die Deutsche Bank, der Schneider in einem Abschiedsbrief vom 7. April 1994 sein Milliardenimperium anvertraut hatte, nahm den Schaden erst mal klammheimlich und vor allen anderen in Augenschein, filzte die Schneider-Büros in Königstein und erstattete erst eine knappe Woche später Anzeige wegen Betrugs. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft in Frankfurt reagierte auf diese Detektivarbeit des Kreditinstituts verärgert: Es ist nicht erfreulich, wenn derjenige, der Anzeige erstattet, nicht die Karten auf den Tisch legt.
Die eilige Razzia in Königstein mag zur bankinternen Schadensbegrenzung beigetragen haben – dem Ansehen des Instituts hat sie zweifellos geschadet. Das größte deutsche Kreditinstitut verhielt sich wie die Handwerker, die nach Bekanntwerden der Pleite hastig ihre Kabel, Waschbecken und Kloschüsseln von den Schneider-Baustellen geholt haben.
Das Unwort des Jahres: Hilmar Köppers Peanuts
Das war nicht der einzige Fauxpas, den sich die Herren der Deutschen Bank bei der Aufarbeitung des Falles Schneider geleistet haben. Den GAU im Hinblick auf Image und öffentliche Darstellung der Bank richtete der Vorstandssprecher Hilmar Köpper höchstpersönlich an. Auf einer Pressekonferenz am 21. April 1994, die ihn – wie er später bekannte – grässlich gelangweilt hatte, wischte er die Sorgen der Handwerker, die nach dem Konkurs von Schneiders Immobilienimperium um ihre Existenz bangten, weil sie massive Forderungsausfälle befürchteten, mit einer abfälligen Bemerkung weg. Das sind doch Peanuts, erklärte der Chef des milliardenschweren Geldhauses aufs Höchste gereizt. Den anwesenden Journalisten verschlug es ob dieser unerträglichen Arroganz fast die Sprache.
Die PR-Abteilung konnte den Schaden nicht mehr gutmachen. Selbst nachgeschobene Erklärungen zum Gemütszustand des Bankers halfen nicht: Er ist irritiert, berichteten Vertraute über den Zustand von Hilmar Köpper, Vorstandssprecher der Deutschen Bank. Was den Herrn des Geldes aus der Fassung gebracht habe, sei die öffentliche Aufgeregtheit über einen Fall, der vom Umfang her für das größte deutsche Kreditinstitut eigentlich keiner sein dürfte. Schließlich ginge es nur um die Pleite eines Bauunternehmers, der bei deutschen Banken insgesamt mit rund sechs Milliarden € – bei der Deutschen Bank allein mit 1,3 Milliarden € in der Kreide stand und Handwerkern gut 250 Millionen € – 50 Millionen € davon entfielen auf die Deutsche Bank – schuldete.
Für den Banker mögen das in der Tat Petitessen gewesen sein: Bei einem gigantischen Kreditvolumen von 400 Milliarden € und einer Risikovorsorge von knapp 3,3 Milliarden € war das Schneider-Engagement des Instituts auf den ersten Blick wirklich kein Grund, kübelweise Häme – wie Hilmar Köpper auf der Pressekonferenz beklagte – auszuschütten. Aber wie schon bei der Metallgesellschaft reagierte die Bank auch im Fall Schneider zu spät, hilflos und – vor allem – beleidigt.
Der Fall Schneider vor Gericht
Was den Fall Schneider zum Fall Deutsche Bank werden ließ, war der Mangel an Professionalität auf allen Ebenen des größten deutschen Kreditinstituts. Deshalb war Schneider viel mehr als ein Patzer des Klassenprimus. Er weckte Zweifel an der Kompetenz und Führung des Vorstands. Er machte deutlich, dass Köpper und seine Kollegen längst out of touch, wie es ein amerikanischer Journalist formulierte, mit ihrem Institut und dem realen Leben geraten waren. Köpper konnte zwar das damals beste Jahresergebnis und den höchsten Gewinn, den das Geldhaus bis dahin je erzielt hatte, vorweisen. Aber noch nie hatte die Bank einen derartigen Imageverlust erlitten: Fast jeder zweite Bundesbürger gab damals an, das Vertrauen zu Instituten wie der Deutschen Bank verloren zu haben.
Deswegen wurde auch der Prozess gegen Jürgen Schneider, der am 30. Juni 1997 vor dem Frankfurter Landgericht eröffnet wurde, zu einem öffentlichen Spektakel. Journalisten aller Medien, aber auch die Kabarettisten und Spaßvögel dieser Republik konnten noch einmal aus dem Vollen schöpfen.
Die Gerichtsreporterin des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Gisela Friedrichsen, schildert Szenen aus der Vernehmung der Banker vor dem Landgericht: Der Vorsitzende Richter Heinrich Gehrke wundert sich bei jedem Zeugen aus dem Bankgewerbe, manchmal bissig, manchmal grimmig. Er sagt zum Beispiel: Also wenn ich eines hier gelernt habe, dann ist es die sehr untertreibende Ausdrucksweise von Bankern. Bis ein Banker mal ein klares Wort sagt! Ein Zeuge sollte seinerzeit prüfen, was es mit physisch möglicherweise mich existenten Mietverträgen auf sich habe. Der Zeuge, ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Centralboden, versichert, dass er nicht den geringsten Zweifel an der Existenz der Verträge gehabt habe. Aber im Klartext heißt das doch, man befürchtete, die Verträge gibt es nicht! – der Vorsitzende fasst sich an den Kopf. Ich ging davon aus, dass es sie gibt, selbstverständlich, sagt der Zeuge.
Hilmar Köpper im Zeugenstand
Der Auftritt von Deutsche-Bank-Chef Hilmar Köpper wurde zum besonderen Medienereignis, doch Richter Gehrke ersparte ihm nichts – wie Der Spiegel schilderte: Köpper wird etwas harsch gefragt: Wie stehen Sie zu Ihren Revisionsberichten? Nun ja, da sind wohl Dinge eingerissen, räumt er ein. Zum Teil habe man erschütternde Feststellungen treffen müssen, zum Teil aber auch menschlich verständliche. Im Übrigen sei die Diktion eines Revisionsberichts immer überzogen, das erwarte man, das müsse so sein. Wir lesen das mit anderen Augen, Herr Vorsitzender, als ein außenstehendere Welchen Eindruck er, Köpper, von Schneider gehabt habe? Das weiß ich nichts antwortet Köpper, bis auf einen Kollegen im Vorstand hat niemand Herrn Schneider gekannte Was? Niemand hatte einen Eindruck von dem Mann, der zum größten Kreditnehmer aufgestiegen war mit astronomischen Vermögenszuwächsen? Der in neun Monaten angeblich eine Milliarde € verdient haben soll? Nein, das ist auch nicht unsere Aufgabe. Wir nahmen wahr, wie Schneider in den Medien gesehen wurde. Man wundert sich ja manchmal über das Hochgejubelte. Und dann kommt der tiefe Fall. Aber was heißt das auch schon, einer ist ganz oben. Der Vorsitzende will es nicht fassen: Sie werden doch auf seine Vermögenslage aufmerksam gemacht worden sein! Es gibt jubelnde Bewertungen aus Ihrem Haus! Köpper bleibt gelassen: Die Person ist völlig uninteressant. Wichtig ist nur das Objekt, das Objekt, das Objekt. Von der Person haben Sie am Ende – wie hier – nichts zu erwarten. Er macht eine kurze Handbewegung hin zum Angeklagten, ohne diesen anzusehen. Es gibt eine Labilität der Marktes fährt Köpper fort, die nicht vorauszusagen ist. Mein Beruf beschäftigt sich mit der Zukunft. Wir müssen Jahre zuvor wissen, was Jahre später sein wird. Immer wenn ein Kind in den Brunnen gefallen ist, weiß man es bessere Es hätte trotz der kleinen Fehlen gutgehen können mit Schneider. Das wäre aber ein Wunder gewesen, protestiert der Vorsitzende. ►Auch Wunder gibt es manchmal, Köpper lächelt.
Pleite ohne Folgen
Konsequenzen für die im Fall Schneider letztlich Verantwortlichen, die Vorstände der Deutschen Bank, gab es nicht. Dafür sorgte schon der bankinterne Verhaltenskodex – Comment des Hauses genannt. Er verlangte bis zum Mai 2002 unter anderem einstimmige Vorstandsbeschlüsse. Auf diese Weise wurden Leistung wie Fehlleistung einzelner auf alle zwölf Mitglieder dieses Gremiums verteilt. Köppers Verweis auf den Aufsichtsrat des Instituts, der bei Entscheidungen über Vorstandsmitglieder das letzte Wort habe, klang schon damals nach Satire. Im obersten Kontrollrat saßen die Vorgänger und vom amtierenden Vorstand selbst handverlesene Repräsentanten befreundeter Unternehmen. Ernsthafte Opposition war da nicht zu befürchten.