Abwerbeversuche betreffen in aller Regel hoch qualifizierte Mitarbeiter, gelegentlich aber auch einfachere Positionen, so z. B., wenn sich ein ausgeschiedener Abteilungsleiter selbständig gemacht hat und „seine“ ehemaligen Mitarbeiter für sich und sein Unternehmen gewinnen will. Viele Arbeitnehmer reagieren überrascht und irritiert auf solche Abwerbeversuche, weil sie von sich aus keine Neigung zu einem Firmenwechsel haben. Der Abwerbeversuch dient deshalb dazu, jemanden zum Firmenwechsel zu motivieren. Je höher die Position, um die es geht, um so verlockender werden die Angebote sein, jemanden zum Wechsel zu bewegen (nicht selten zur Konkurrenz). Dass solche Abwerbeversuche nicht ungefährlich und auch rechtlich brisant sind, ist manchem nicht klar. Das Beispiel zeigt, wie so etwas ablaufen kann:
Hans Hoffmann, 45 Jahre alt, ist Leiter des Finanzwesens eines renommierten Großunternehmens, leitender Angestellter und direkt der Geschäftsführung unterstellt. Er ist Mitglied in verschiedenen Gremien und in einem Erfa-Kreis und zudem in der Branche als Fachmann für electronic-banking bekannt, das er in seinem Unternehmen erfolgreich eingeführt hat. Eines Abends gegen 18 Uhr, seine Sekretärin war bereits weg, klingelte das Telefon, und eine freundliche Dame bat ihn höflich um ein kurzes Gespräch. Sie erläuterte, für die Agentur X zu arbeiten, die diverse Kunden betreue. Bei einem dieser Kunden sei durch altersbedingtes Ausscheiden eines Geschäftsführers eine Vakanz mit Schwerpunkt Finanzwesen entstanden. Sie habe nun gehört, dass er ein branchenbekannter Fachmann sei, und erlaube sich die höfliche Anfrage, ob er schon einmal daran gedacht habe, von der zweiten in die erste Führungsebene zu wechseln. Hoffmann erfasste sofort die Situation, zeigte sich interessiert, erfuhr aber nicht, um welches Unternehmen es sich handelte, dies wollte die Anruferin erst bei einem Treffen offenbaren. Doch die Verlockungen gingen sehr geschickt weiter:
Die Anruferin fragte mehr oder weniger dezent, ob er mehr als € 100 000,- im Jahr verdiene, was Hoffmann verneinte. Daraufhin sagte sie, dann könne er sich in jedem Fall verbessern, weil die Position mit satten € 150 000,- ausgestattet sei. Hoffmann bat sich Bedenkzeit aus, ließ sich die Telefonnummer der Agentur geben und sagte dann schließlich ab. Er verspürte keine Neigung zu einem Wechsel, weil er in seinem Unternehmen etliche Vorteile genoss und auch nicht in eine andere Stadt umziehen wollte. Aus Loyalität zum Unternehmen informierte er zudem seinen Geschäftsführer über den Anruf.
So oder ähnlich laufen viele Abwerbeversuche ab. Nicht immer aber reagieren die Angerufenen so besonnen wie im Beispielsfall. Geschmeichelt von höherwertigen Angeboten lassen sie sich nicht selten dazu hinreißen, ihre jetzige Situation und zum Teil auch Firmeninterna auszuplaudern. Das kann schief gehen, denn schließlich weiß man nie, wer hinter dem Anruf steckt, und außerdem ist allzu große Vertrauensseligkeit keine gute Visitenkarte für das andere Unternehmen. (Sie werden kaum glauben, was selbst gestandene Manager Headhuntern alles erzählen.) Manchmal erfolgen Abwerbeanrufe deshalb auch nur, um Firmeninterna herauszubekommen. Eine für alle Beteiligten gefährliche Sache. Denn die Abwerbung ist unter bestimmten Voraussetzungen wettbewerbswidrig und kann leicht zu hohen Schadensersatzforderungen führen. Nicht selten ergeben sich für den Umworbenen zum schlechten Schluss noch persönlich Nachteile, wie der folgende Fall zeigt:
Ein Redaktionsleiter in einem Medienunternehmen wurde von einer Unternehmensberatung angerufen und ziemlich direkt gefragt, ob er Neigungen hätte, das Unternehmen zu wechseln. Angeboten wurde eine Geschäftsführerposition. Der Redaktionsleiter ließ sich darauf ein und versprach Rückruf. Am anderen Tage informierte er seine Vorgesetzten von dem Abwerbeversuch. Da bei diesem Gespräch auch seine Unzufriedenheit mit dem jetzigen Aufgabenfeld deutlich wurde, meinte der Geschäftsführer, wenn er gehen wolle, so könne er das tun, man werde ihn nicht hindern. Fortan hatte der Redaktionsleiter den Ruf des Unzufriedenen und potenziellen Wechslers, man vertraute ihm keine Planungsvorhaben mehr an. Der Nachteil für ihn war unübersehbar, obwohl er dem Abwerber einen „Korb“ gegeben hatte.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass man bei Abwerbeversuchen nicht vorsichtig genug sein kann. Prüfen Sie deshalb genau, worauf Sie sich einlassen. Zugegeben: Ein Abwerbeversuch kann für Sie ein willkommener Anlass sein, über andere Möglichkeiten nachzudenken, nur sollten Sie das für sich behalten und sich beim Anbieter erst dann förmlich bewerben bzw. Ihr Interesse bekunden, wenn feststeht, dass Sie sich wirklich verbessern können und auch in Ihrem jetzigen Beruf keine Nachteile dadurch haben. Wenn Sie sich auf einen Abwerbeversuch hin bewerben, dann sollten Sie gegenüber Ihrem jetzigen Arbeitgeber absolutes Stillschweigen darüber bewahren, warum Sie wechseln wollen. Kündigen Sie fristgemäß mit dem schlichten Hinweis, sich verändern zu wollen. Beim Bewerbungsgrund „Abwerbeversuch“ ist klar, dass der Bewerber oder die Bewerberin zunächst kein ganz spezielles Interesse an dem neuen Unternehmen haben kann. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue Arbeitgeber dennoch schon bestimmte Erwartungen hat, auf die man eingehen sollte. Anders gesagt, auch bei einer Abwerbung muss man typische Bewerbereigenschaften heraussteilen: Sachkunde und Erfahrungen in seinem Arbeitsgebiet, Interesse am neuen Arbeitsplatz und an der neuen Firma und das Betonen von Besonderheiten, die für die neue Firma wertvoll sein könnten.