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Das Erwachen der deutschen Börsen AG

Moderne Effektenbörsen, wie wir sie heute kennen, entstanden in den deutschsprachigen Teilen Europas erst verhältnismäßig spät. Die Londoner Börse verfügte 1697 bereits über einen Kurszettel, der an den Marktplätzen ausgehängt wurde, damit sich jeder über die Kurse informieren konnte. Amsterdam folgte mit dieser Errungenschaft erst 1714, allerdings gab es dort schon eine Börsenordnung. Damals waren in Amsterdam 34 Aktiengesellschaften notiert.

Und noch etwas hatten die Holländer den Deutschen und Österreichern voraus: Sie kannten auch schon alle Tricks und Schwindel des Börsengeschäfts. Der Börsenmakler Joseph De La Vega schrieb bereits 1688 das erste Buch über die Börse, also knapp 300 Jahre vor Kostolany, in dem er Strategien, aber auch Manipulationsmethoden detailliert darstellte. Einer der Lieblingstricks jener Zeit war das Erfinden von kursbeeinflussenden Nachrichten. Kommt einem doch irgendwie bekannt vor, oder?

London, Antwerpen und Amsterdam waren also die ersten echten Effektenbörsen. Das bedeutet, dass dort Wertpapiere gehandelt werden, die lediglich nach ihrer Gattung, Stückzahl und ihrem Betrag definiert sind, ohne dass sie tatsächlich körperlich an der Börse vorhanden sein müssen, um gehandelt werden zu können.

Die Wiener Börse wurde erst im September 1771 gegründet, doch blieb es an dieser Börse einige Jahrzehnte recht still. Die Frankfurter Börse begann erst 1816 mit dem regelmäßigen Effektenhandel und war bis zur Reichsgründung 1871 die bedeutendste Börse in Deutschland, bis sie von Berlin abgelöst wurde. Die ersten Aktien wurden in Frankfurt 1820 gehandelt. In Hamburg begann der Effektenhandel 1815. In dieser Zeit dominierten aber immer noch die festverzinslichen Wertpapiere gegenüber den Anteilspapieren.

In den Jahren 1825 und 1826 kam es in England zu einer schweren wirtschaftlichen Krise, der schlimmsten seit dem Südseeschwindel von 1720. Ausgelöst wurde diese Krise durch den restriktiven Eingriff der Bank of England in den überhitzten Finanzmarkt Londons, der zu der Zeit der weltweit größte war. Als Folge brachen 1825 in England über 70 Banken sowie 3 600 andere Unternehmen zusammen. Diese Krise breitete sich dann über Holland und Frankreich auch bis nach Deutschland und Österreich aus.

Die Hauptkrisenursache sah man in Deutschland in den seit 1816 gebräuchlichen Zeitgeschäften. Gemeint war damit der Terminhandel, der sehr schnell mit Scheingeschäften und Schwindel gleichgesetzt wurde, während das normale Kassageschäft als reelles kaufmännisches Handeln galt. 1836 wurden in Preußen alle Zeitgeschäfte verboten. Seit 1840 wurden immer mehr Aktien in Deutschland gehandelt. Dabei konzentrierte man sich auf die neuen Technologien, nämlich auf die Eisenbahn. Industrie- und Bankaktien kamen erst etwas später hinzu. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedurfte jede einzelne Gründung einer Kapitalgesellschaft einer besonderen Genehmigung durch den preußischen König. Auch in den anderen deutschen Ländern gab es keine allgemeine gesetzliche Regelung der Gründung von Aktiengesellschaften. Erst im November 1843 wurden in Preußen das Börsenwesen und das Aktienrecht festgeschrieben. Aktiengesellschaften konnten nun unabhängig von der Branche, in der sie tätig waren, gegründet werden – mit Ausnahme des Bankensektors.

Die bemerkenswertesten Börsengeschäfte und größten Spekulationskrisen stehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz eindeutig im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau. Bereits die erste deutsche Eisenbahh zwischen Nürnberg und Fürth wurde 1835 mit einem Aktienkapital von 177 000 Gulden gebaut. Die 207 Aktionäre gehörten überwiegend dem bürgerlichen Stand an. Sie waren Kaufleute, Ärzte, Verleger, aber es waren auch Beamte und Offiziere dabei. Die Kurse der ausgegebenen Aktien lagen Ende 1835 20 unter pari, stiegen dann sogar auf 500 Gulden im Jahre 1837 und bewegten sich auch 1847 noch deutlich über 300. Man kann in dieser Zeit von einem wahren Eisenbahnfieber sprechen.

Ab 1840 wurden dann die großen Linien gebaut, so zum Beispiel 1843 die Köln-Mindener Eisenbahn, deren Gesellschaft immerhin mit einem Kapital von 13 Millionen Talern gegründet wurde. Die Rheinische Bahn von Köln nach Antwerpen kam 1837 noch mit 2 Millionen Talern aus. In erster Linie war das breite Publikum noch an der Dividende interessiert, die bei der von Nürnberg nach Fürth fahrenden Ludwigs-Eisenbahngesellschaft schon kurz nach Inbetriebnahme der Bahn bei 17,25 Prozent lag. Überall in Deutschland entstanden neue Eisenbahnlinien. Von Berlin nach Potsdam, von Braunschweig nach Wolfenbüttel, von Düsseldorf nach

Erkrath und von Leipzig nach Dresden. Insgesamt wurden zwischen 1838 und 1846 über 100 Millionen Taler in den Eisenbahnbau gesteckt. Und weil die Renditeerwartung so hoch war, kam es schon damals zu einer Überzeichnung der Aktien, wie wir es auch bei Technologiewerten am Neuen Markt kennen.

Die Eisenbahnaktie als Kapitalanlage war so beliebt, dass der preußische Staat befürchtete, anderen Wirtschaftszweigen würde das Kapital entzogen. Man liebäugelte mit dem Verbot des Baues weiterer Eisenbahnlinien. Das drückte natürlich die Kurse. Aber auch andere Ereignisse konnten sich kursbeeinflussend auswirken. So zum Beispiel die schlimmen Missernten in den Jahren 1846 und 1847, die in den Folgejahren die Eisenbahnaktien in England auf 28 Prozent des vorherigen Kurswerts drückten, während sich die Werte in Deutschland nur halbierten.

Mitte des 19. Jahrhunderts kamen dann neben den Eisenbahn- auch Bankaktien an die Börse, die jedoch anfangs noch misstrauisch beäugt wurden. Es folgten dann die Industrieaktien, auf die man in Frankfurt eher zurückhaltend reagierte, während die Berliner sie durchaus positiv aufnahmen. Zu diesen Industrieaktien gehörten auch etliche Bergwerks- und Hüttenunternehmen, unter anderem die Harpener Bergbau-Actien-Gesellschaft, die 1856 gegründet wurde und die es heute immer noch gibt, obgleich der schweizerische Finanzjongleur Werner K. Rey in den neunziger Jahren versucht hat, das Unternehmen auszuschlachten, während die deutschschweizerische PR-Agentur Trimedia dafür zu sorgen hatte, dass er nach außen hin sein Mäntelchen der Seriosität bewahren konnte, bis er dann für Jahre untertauchte.

Seit den fünfziger Jahren des 19- Jahrhunderts gab es in Deutschland eine rege Investitionstätigkeit, die durch den Deutsch-Österreichischen Krieg 1866 eine leichte Delle bekam, während der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 durch die steigende Nachfrage an Kriegsmaterialien einen zusätzlichen Investitionsschub auslöste.

Die Historiker sind sich darüber einig, dass der Aufschwung der Wertpapierbörsen nach 1850 ohne die Innovationen im Bereich der Informationsvermittlung nicht möglich gewesen wäre. 1848 wurde die erste elektromagnetische Telegrafenverbindung zwischen Frankfurt und Berlin installiert, und schon ein Jahr später gründete B. Wolff in Berlin das Wölfische thelegraphische Bureau-. Wenige Jahre später entstanden mehrere verschiedene Börsenzeitungen, und auch die allgemeinen Tageszeitungen enthielten Börsenberichte und aktuelle Meldungen, die sie von den telegrafischen Büros bezogen.

1862 wurde durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch das Aktienrecht in Deutschland und Österreich einheitlich gefasst, allerdings nur für Aktiengesellschaften, die gewerbsmäßig Handel betrieben. Die einzelnen Staaten konnten nun auf die Genehmigungspflicht für die Neugründung von Aktiengesellschaften verzichten, doch machten keineswegs alle davon Gebrauch.

Das neue Aktiengesetz des Norddeutschen Bundes von 1870, das 1971 auch von den süddeutschen Ländern und 1874 von Elsass-Lothringen eingeführt wurde, brachte eine weitgehende Liberalisierung. Während die Gesellschaften bisher eine staatliche Konzession brauchten, fiel diese für die Zukunft weg. Nun wurde auch in Preußen die Gründung von Aktienbanken ermöglicht. Übrigens wurden damals auch die Aktiengesellschaften verbindlich verpflichtet, einen Aufsichtsrat als Kontrollorgan des Vorstands einzusetzen.

Zu der Zeit wurden in Berlin 325 Wertpapiere notiert, davon waren knapp ein Drittel in- und ausländische Staatspapiere, die überwiegende Zahl (über 180) unterschiedliche Eisenbahnaktien, und es gab 55 Bank- und Industrieaktien. Frankfurt war hingegen immer noch hauptsächlich auf Staatspapiere konzentriert.

In den Jahren 1871 bis 1873 folgte die so genannte Gründerzeit. Es wurden in Deutschland 928 Aktiengesellschaften mit einem Gesamtkapital von 2,78 Milliarden Euro gegründet. Dabei lag das Schwergewicht in der Montan-, Eisenbahnbaubedarfs- und Maschinenbauindustrie. Jedoch wurden auch in den Jahren 1870 bis 1872 in Deutschland 107 Aktienbanken mit einem Kapital von insgesamt 740 Millionen Euro gegründet, von denen die Deutsche Bank, die Commerzbank und die Dresdner Bank heute noch existieren.

Der Konjunkturaufschwung und das Interesse an Aktien lässt sich ab 1868 als ein internationales Phänomen nach weisen, wobei sich die Österreicher besonders hervortaten. Dort hatte sich zwischen 1866 und 1873 die Zahl der Eisenbahngesellschaften um 185 Prozent vermehrt, die der Industrie- und Baugesellschaften um über 970 Prozent, was die Grundstückspreise enorm in die Höhe trieb, und die der Aktienbanken um 305 Prozent.

An der Börse zockten die Österreicher wie die Wilden. Aber auch die Deutschen machten in Wien mit. Das durch die Reparationszahlungen von Frankreich in Deutschland freigegebene Kapital, rund 2,5 Milliarden Euro bei einem Nettosozialprodukt in Höhe von 16 Milliarden Euro, wurde auch flugs nach Wien transferiert. Ungefähr eine Milliarde wanderte dahin, da der Aufschwung an der Wiener Börse exorbitante Gewinne versprach.

Als es dort im Frühjahr 1873 zu Problemen kam, woran unter anderem ungünstige politische Meldungen Schuld hatten, weitete sich diese Krise innerhalb von wenigen Monaten auch auf die deutschen Börsenplätze aus. Am 9- Mai 1873 war der erste so genannte Schwarze Freitag an deutschen Börsen. Insgesamt sank in Deutschland der Kurswert von 444 deutschen Aktiengesellschaften von 4,5 Billionen auf 2,4 Billionen Euro, also um durchschnittlich 46 Prozent. Das Ausmaß der Gründerkrise war erheblich. Von den zwischen 1870 und 1872 gegründeten 107 Aktienbanken waren am Ende des Jahres 1873 nur noch 34 im Geschäft. Der Rest war pleite. Von den zwischen Sommer 1870 und Ende 1874 allein in Preußen gegründeten 857 Aktiengesellschaften befanden sich Ende 1874 bereits 123 Gesellschaften in Liquidation, 37 waren schon in Konkurs gegangen.

Diese Krise von 1873 hatte viele Parallelen zum heutigen Neuen Markt. Auf die Welle von Neugründungen von Aktiengesellschaften und Börsengängen folgte der tiefe Absturz und eine Auslese zwischen den Unternehmen, bei der es auf ihre Überlebensfähigkeit ankam. Nur die besten Unternehmen blieben übrig. Keine der weiteren Krisen in der Börsengeschichte wies solche Ähnlichkeiten mit der heutigen Situation auf.

Als Konsequenz des Crashs beschloss man 1884 zunächst eine Überarbeitung des Aktiengesetzes, um den Kleinsparer vom gefährlichen Bör- senspiel fern zu halten. Man erhöhte zu diesem Zweck den Mindestnennwert der Aktien auf 1 000 Euro. Damit legte man den Grundstein für eine fast 100 Jahre andauernde Aktienabstinenz bei den Normalverdienern. Man wollte den einfachen Bürger und den unteren Mittelstand schützen, gleichzeitig schnitt man sie aber auch vom Wohlstand durch Vermögenswachstum ab. Arbeiten und Sparen hieß jetzt die Devise. Das freute die Banken. Im Herbst 1881 führten Missstände und Unregelmäßigkeiten bei Termingeschäften zur Entwicklung eines allgemein verbindlichen Gesetzeswerks, das die Tätigkeit der Börse regeln sollte. 1896 wurde das erste deutsche Börsengesetz verabschiedet. Was aus heutiger Sicht bemerkenswert erscheint, sind die umfangreichen Anlegerschutzvorschriften.

Auszug aus dem Börsengesetz vom 22. Juni 1896

  • 7

Vom Börsenbesuche sind ausgeschlossen:
Personen weiblichen Geschlechts;
Personen, welche sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befinden;
Personen, welche in Folge gerichtlicher Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt sind;
Personen, welche wegen betrüglichen Bankerutts rechtskräftig verurtheilt sind;
Personen, welche wegen einfachen Bankerutts rechtskräftig verurtheilt sind;
Personen, welche sich im Zustande der Zahlungsunfähigkeit befinden;
Personen, gegen welche durch rechtskräftige oder für sofort wirksam erklärte ehrengerichtliche Entscheidung auf Ausschließung von dem Besuche einer Börse erkannt ist.

  • 38

Vor der Zulassung ist, sofern es sich nicht um deutsche Reichsoder Staatsanleihen handelt, ein Prospekt zu veröffentlichen, welcher die für die Beurtheilung des Werthes der einzuführenden Papiere wesentlichen Angaben enthält. Das Gleiche gilt für die Konvertirungen und Kapitalserhöhungen. Der Prospekt muss den Betrag, welcher in den Verkehr gebracht, sowie den Betrag, welcher vorläufig vom Verkehr ausgeschlossen werden soll, und die Zeit, für welche dieser Ausschluß erfolgen soll, ersichtlich machen.

  • 39

Die Zulassung von Antheilsscheinen oder staatlich nicht garantifer- ten Obligationen ausländischer Erwerbsgesellschaften ist davon abhängig, dass die Emittenten sich auf die Dauer von fünf Jahren verpflichten, die Bilanz sowie die Gewinn- und Verlustrechnung jährlich nach Feststellung derselben in einer oder mehreren von der Zulassungsstelle zu bestimmenden deutschen Zeitungen zu veröffentlichen.

  • 43

Sind in einem Prospekt, auf Grund dessen Werthpapiere zum Börsenhandel zugelassen sind, Angaben, welche für die Beurteilung des Werthes erheblich sind, unrichtig, so haften diejenigen, welche den Prospekt erlassen haben, sowie diejenigen, von denen der Erlaß des Prospekts ausgeht, wenn sie die Unrichtigkeit gekannt haben oder ohne grobes Verschulden hätten kennen müssen, als Gesammtschuldner jedem Besitzer eines solche Werthpapieres für den Schaden, welcher demselben aus der von den gemachten

Angaben abweichenden Sachlage erwächst. Das Gleiche gilt, wenn der Prospekt in Folge der Fortlassung wesentlicher Thatsachen unvollständig ist und diese Unvollständigkeit auf bösliche Verschweigen oder auf der böslichen Unterlassung einer ausreichenden Prüfung seitens derjenigen, welche den Prospekt erlassen haben, oder derjenigen, von denen der Erlaß des Prospektes ausgeht, beruht. Die Ersatzpflicht wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass der Prospekt die Angaben als von einem Dritten herrührend bezeichnet.

  • 75

Wer in betrügerischer Absicht auf Täuschung berechnete Mittel anwendet, um auf den Börsen- oder Marktpreis von Waaren oder Wertpapieren einzuwirken, wird mit Gefängniß und zugleich mit Geldstrafe bis zu fünfzehntausend Euro bestraft. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden …

Die gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher in betrügerischer Absicht wissentlich unrichtige Angaben in Prospekten (§ 38) oder in öffentlichen Kundgebungen macht, durch welche die Zeichnung oder der Ankauf von Werthpapieren herbeigeführt werden soll.

  • 76

Wer für Mittheilungen in der Presse, durch welche auf den Börsenpreis eingewirkt werden soll, Vortheile gewährt verspricht oder sich gewähren oder versprechen lässt, welche in auffälligem Mißverhältniß zu der Leistung stehen, wird mit Gefängniß bis zu einem Jahre und zugleich mit Geldstrafe bis zu fünftausend Euro bestraft.

Die gleiche Strafe trifft denjenigen, der sich für die Unterlassung von Mittheilungen der bezeichneten Art Vortheile gewähren oder versprechen lässt.

  • 78

Wer gewohnheitsmäßig in gewinnsüchtiger Absicht Andere unter Ausbeutung ihrer Unerfahrenheit oder ihres Leichtsinns zu Börsenspekulationsgeschäften verleitet, welche nicht zu ihrem Gewerbebetriebe gehören, wird mit Gefängniß und zugleich mit Geldstrafe bis zu fünfzehntausend Euro bestraft. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Bis zum Ausbruch der Ersten Weltkriegs erlebte das Aktienwesen in Deutschland eine neue Blütezeit. Adelige Großgrundbesitzer, aus dem Handwerk erwachsene Industrielle, aber auch das gehobene Bürgertum, Ärzte, Anwälte, Kaufleute und Beamte wussten nicht wohin mit ihrem Geld. Im Jahr 1900 gab es bereits 4500 Aktiengesellschaften und 1909 5222. Ende Juli 1914 wurden die deutschen Börsen geschlossen, aber der Handel mit Wertpapieren an anderen Orten fortgesetzt, bis im Dezember 1917 die Börsen wieder öffnen konnten. In der Nachkriegszeit erfreute sich die Börse auch in breiten Bevölkerungskreisen wieder wachsender Beliebtheit. Kein Wunder, denn die Inflation wurde immer schneller, und mit Aktien konnte zumindest ein Teil des Vermögens vor der Entwertung gerettet werden. Seit einer Änderung im Börsengesetz vom 28. Dezember 1921 durften nun übrigens auch Frauen die Börse besuchen.

Aktienbesitzer haben auch die Inflation 1923 relativ gut überstanden. Sie hatten während der Inflationszeit zwar ein Fünftel ihres Vermögens verloren, aber diejenigen, die ihr Geld in vermeintlich sicheren Staatsanleihen angelegt hatten, verloren praktisch alles. 1924, nach der Einführung der Reichsmark, stabilisierten sich die Aktienkurse wieder und erreichten 1927 während der Zeit der Weimarer Republik ihren Höchststand. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 folgte ein kräftiger Absturz, 1931 und 1932 wurden die Notierungen wegen der Bankenkrise zeitweilig ausgesetzt.

Durch den Zweiten Weltkrieg haben natürlich auch die Aktienbesitzer hohe Verluste erlitten, der Grund waren Enteignungen, Demontage oder Zerstörung vieler Betriebe. 1945 hatte sich das Vermögen eines Aktionärs gegenüber 1933 ungefähr halbiert, während diejenigen, die ihr Geld in Anleihen angelegt hatten, 86 Prozent verloren hatten. Der Aktionär stand also wieder relativ gut dar.

Und mit der Währungsreform 1948 wurden alle Schuldverschreibungen des Staates wertlos, ebenso das Bargeld; andere Anleihen wurden auf ein Zehntel ihres Wertes gekürzt. Trotzdem hat es sehr lange gedauert, bis das breite Publikum in Deutschland wieder für Aktien zu begeistern war.

Warum die Deutschen der Börse so lange misstrauten
Schlechte Erfahrungen während der Kaiserzeit, Weltwirtschaftskrise und Angst vor Kriegen waren einige der Gründe, weshalb die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg so lange aktienabstinent waren, obwohl die Fakten eigentlich für Aktien sprachen. Weil im Zweiten Weltkrieg das verloren ging, was bis dahin den Wert eines Unternehmens ausgemacht hatte – Fabriken, Anlagen, Menschen und Märkte — waren in der Nachkriegszeit Aktien in der öffentlichen Meinung risikobeladene Besitzanteile, deren Dividende von anderen Geldanlagemöglichkeiten zum Teil erheblich übertroffen wurden. Die Kursbewegungen waren verhältnismäßig gering und Spekulationen erforderten besondere Kenntnisse und einen hohen finanziellen Einsatz. Außerdem bestand auch bei den Banken und Sparkassen ein elementares Interesse daran, andere Geldanlagen zu fördern, allen voran das Sparbuch. Deshalb legten sie die Hürden für den Aktienkauf und Aktenbesitz auch besonders hoch. Mit den Spareinlagen ließen sich wunderbar die Kredite für die Unternehmen finanzieren. Ein risikoarmes und lukratives Geschäft. Auch die Regierung sah im Sparen das Glück des kleinen Mannes und hatte kaum ein Interesse daran, etwas zu verändern.

Erst als der Bundesbürger (besonders die junge Erbengeneration) das bisher so ungewohnte Risiko einer Geldanlage entdeckte und mehr an Verzinsung als von Sparbüchern und Anleihen wollte, als auch die Wirtschaft die Börse zunehmend als leichte Geldquelle entdeckte, erst da begann in Deutschland so etwas wie Aktienkultur. Nicht die Volksaktie von VW im Jahre 1961 löste den Aktienboom in Deutschland aus, sondern erst die groß angelegte Werbekampagne für die Deutsche Telekom im November 1996, also 35 Jahre später.