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Die Moral stirbt zuerst wo die Gier herrscht

Frustrierte deutsche Aktionäre, die lange neidisch nach Amerika geblickt hatten, erspähten dort im Frühjahr 2002 eine Räuberhöhle unvorstellbaren Ausmaßes. In großem Stil hatten scheinbar renommierte Konzerne ihre Bilanzen gefälscht, Milliardengewinne ausgewiesen, die es gar nicht gab, und zudem mit einem Höchstmaß an krimineller Energie die Kurse ihrer Aktien manipuliert. Banken und Wirtschaftsprüfer hatten diese kriminellen Vereinigungen in den Konzernzentralen von Enron, WorldCom und anderen einst soliden US-Adressen kräftig unterstützt.

Spätestens seit November 2001, seit der US-Energie-Riese Enron offenbaren musste, wie er im Verein mit den Wirtschaftsprüfern der einst angesehenen Sozietät Arthur Andersen die Bilanzen fälschte, mit Hilfe von angesehenen US Banken wie Citicorp und JPMorgan Kreditbetrug in Milliardenhöhe beging und erfundene Profite meldete, ist es mit der ehrfürchtigen Bewunderung der amerikanischen Börsenkultur vorbei.

Als sich dann im Laufe des Jahres 2002 herausstellte, dass die Enron-Manager keineswegs die einzigen waren, die ihre Gewinne betrügerisch aufgeblasen und damit im großen Stil ihre Anleger betrogen hatten, war das Vertrauen der Investoren nachhaltig zerstört worden. Zu den Übeltätern gehörten so namhafte Unternehmen wie der Bürogerätehersteller Xerox, der Elektrokonzern Tyco, der Pharmakonzern Merck ft Co. und sogar der Telekommunikationsgigant WorldCom mit dem Moralapostel und Firmengründer Bernhard Ebbers an der Spitze, der penibel alles kontrollierte – sogar die Spesenabrechnungen seiner Manager. Als WorldCom im Juli 2002 das Insolvenzverfahren beantragte, brach an den Kapitalmärkten weltweit Panik aus.

Der Verlust an Glaubwürdigkeit lässt sich an Rekordverlusten ablesen. Der Dow Jones – kaum dass er sich von der Baisse des Jahres 2001 und dem Crash nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erholt hatte, sank auf das Niveau des Jahres 1997, die US-Wachstumsbörse Nasdaq schnurrte innerhalb eines Jahres auf weniger als die Hälfte ihres Wertes zusammen. Noch schlimmer erwischte es die deutschen Märkte, der DAX fiel innerhalb eines Jahres von rund 5.500 Punkten auf unter 3.500 Punkte und der Nemax von 1.300 Anfang Juli 2001 auf Allzeittiefstand von weniger als 450 Punkten. Innerhalb weniger Tage wurden 130 Milliarden Euro allein an den Börsen vernichtet – eine Summe, die dem Bruttosozialprodukt des Landes Norwegen entspricht.

Bei der Suche nach den Ursachen der Betrugsskandale kommen erstaunliche Erkenntnisse ans Licht: Die von vielen so geschätzte US-Wertpapieraufsicht Securities and Exchange Commission zehrt seit langem nur noch vom Ruhm vergangener Tage, dem turbulenten Börsengeschehen ist sie längst nicht mehr gewachsen. Allein die Menge an Quartalsberichten und Papieren, die die gelisteten Unternehmen und Börsendebütanten einreichen müssen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die schockierten Anleger fragen sich jetzt, ob diese je geprüft worden sind. Sonst hätten beispielsweise die sonderbaren Umsatzsprünge beim Pharmakonzern Merck auffallen müssen, kritisiert die US- Wirtschaftszeitung The Wall Street Journal.

Zur Überforderung der SEC-Beamten trug auch bei, dass sich in der vergangenen Dekade das Handelsvolumen vervielfacht hat und ständig neue Finanzierungsinstrumente und Anlagemodelle entwickelt wurden, die an den Börsen angeboten werden und von der SEC überwacht werden müssten. Dafür fehlt der Behörde allerdings das Personal. Wegen der mageren Gehälter wechseln die besten Mitarbeiter schnell auf die andere Seite, zu den Brokerhäusern und Investmentbanken.
Doch eine Aufstockung der Belegschaft und eine Erhöhung der Einkommen war nicht drin, erst kürzlich hat US-Präsident George W. Bush eine Budgeterhöhung für die überlastete Behörde abgelehnt.

Erst nachdem sich der Börsenskandal zu einer massiven Krise der US-Wirtschaft und der Weltkapitalmärkte auszuweiten drohte, hat Bush die Strafen für Anlagebetrug und Bilanzfälschung verschärfen lassen. Seit 14. August 2002 müssen die Chefs von Amerikas Konzernen jeden Geschäftsbericht selbst abzeichnen und für die Richtigkeit selbst und mit ihrem meist nicht unbeträchtlichen Vermögen haften. Unrichtige Angaben werden nun mit hohen Haftstrafen geahndet. Die Chancen, dass die Missetäter entlarvt werden, sind damit zwar nicht gestiegen, denn von einer Aufrüstung der Aufsichtsbehörde war nicht die Rede, doch die Regierung hat, wie es scheint, endlich einmal durchgegriffen.

Den deutschen Aufsichtsbeamten und Kontrolleuren kommt die Entzauberung der US-Börsenwächter nicht ungelegen. Die oft unterstellte Überlegenheit des US-Systems in Unternehmensführung, Bilanzierung und Aufsicht sei, so ThyssenKrupp-Aufsichts- ratschef Gerhard Cromme, durch die jüngsten Vorgänge in den USA widerlegt. Unter Crommes Vorsitz hatte eine im September 2001 von Bundeskanzler Gerhard Schröder beauftragte Regierungskommission einen neuen Kodex für die Führung von börsennotierten Unternehmen, den Deutschen Corporate Governance-Kodex, erarbeitet. Der Kodex ist ein vernünftiger Weg und es wird die Aufgabe sein, ihn so zu entwickeln, dass solche Fehler nicht passieren. Doch als dieser Verhaltenskodex im Februar 2002 präsentiert wurde, musste Cromme Kritik von allen Seiten einstecken. Den Unternehmen gingen die Vorschläge zu weit, den Anlegerschützern nicht weit genug.

Tatsächlich hat die Kommission Schritte in die richtige Richtung gemacht, sich aber nicht allzu weit vorgewagt. Der wichtigste Punkt des neuen Verhaltenskatalogs für die Führungskräfte ist: Nicht mehr als zwei ehemalige Vorstandsmitglieder eines Unternehmens sollen in dessen Aufsichtsrat gewählt werden. Doch an der von deutschen Konzernherren besonders geschätzten Regelung, nach dem Vorstandsvorsitz auch die Leitung des Aufsichtsrats zu übernehmen, um weiter ins Unternehmen hinein regieren zu können, wurde nicht gerüttelt.

Das ist auch kein Wunder, denn zwei der Kommissionsmitglieder haben genau diesen Wechsel erst kürzlich vollzogen. Der Kommissionsvorsitzende Cromme war bis November 2001 Chef von Thyssen-Krupp und leitet jetzt den Aufsichtsrat des Konzerns, Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf-E. Breuer hat im Mai 2002 die Führung des Kontrollgremiums in dem Geldkonzern übernommen. Der Kodex will jedoch die Zahl der von einer Person eingenommenen Kontrollposten beschränken. Vorstandsmitglieder börsennotierter Aktiengesellschaften sollen nicht mehr als fünf Aufsichtsratsmandate gleichzeitig halten – nach dem Aktienrecht gelten noch zehn Ratsposten in konzernunabhängigen Unternehmen als Obergrenze. Die Gehälter von Vorstandsmitgliedern und die Bezüge der Aufsichtsräte sind laut Kodex künftig einzeln aufzuführen. Zur Verbesserung der Diskussionskultur sollen zudem mehr Ausschüsse gebildet werden.

Die Umsetzung der insgesamt rund 50 Empfehlungen des so genannten Complyorexplain-Regelwerks soll den Unternehmen nicht zwingend vorgeschrieben werden, aber wer die hier aufgeführten Vorschläge nicht befolgt, müsste künftig erklären, warum er es nicht tut. Kommissionsvorsitzender Cromme erwartet, dass der Druck der internationalen Finanzmärkte und auch der Öffentlichkeit so stark wird, dass kaum ein Konzern es sich leisten kann, diese simple Forderung nach mehr Transparenz bei der Bezahlung der Spitzenmanager auf Dauer zu ignorieren.

Wer die Entwicklung der vergangenen Jahre Revue passieren lässt, dürfte sich über das Vertrauen des Topmanagers in die Rationalität der Märkte und deren heilsamen Einfluss auf die künftige Unternehmensentwicklung eher wundem. Dass die Märkte mehr hinrichten als richten, haben die vorangegangenen Artikel deutlich gezeigt. Das gilt sowohl für Unternehmen als auch für ganze Volkswirtschaften. Das Feuer, das enttäuschte Kleinanleger, institutionelle Investoren und die Bundesregierung als Großaktionär bei der Deutschen Telekom entfacht haben, kann sich zu einem Flächenbrand entwickeln, in dem mehr als die Karriere eines Herrn Sommer zerstört wird. Es geht auch nicht nur um die Ersparnisse von zigtausenden kleiner Anteilseigner. Das Debakel um die Aktien eines Unternehmens, auch wenn es sich dabei um einen der größten Konzerne Deutschlands und die Volksaktie der Deutschen handelt, kann mit dazu beitragen, die politische Landschaft zu verändern und einen Regierungswechsel zu beschleunigen. Das mag man bedauern oder nicht. Den Märkten und den Finanzjongleuren ist es gleichgültig, wer die Politik in einem Land bestimmt. Wenn ihnen die Richtung nicht passt, zieht die Karawane eben in ein anderes Land.

Erschreckend ist vielmehr, dass sich die Politik immer mehr den Märkten und den mächtigen Finanzinstitutionen unterordnen muss und dass dies nicht in einer korrupten Bananenrepublik geschieht, sondern in zivilisierten Ländern wie zum Beispiel Deutschland und der Schweiz. Und wenn die Märkte schon solche Wirkung in gefestigten Demokratien entfalten können, dann müssten Strukturen geschaffen werden, die ihren Einfluss begrenzen, nicht erweitern.

Die Märkte sind amoralisch – das sagt nicht ein weltfremder Moralist, sondern einer der Scharfschützen der internationalen Hochfinanz, George Soros. In einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel im Jahr 1998 plädierte der einstige Freibeuter der Finanzmärkte für strenge Aufsicht und Kontrollen: Märkte und Privateigentum sind unentbehrlich für eine offene Gesellschaft. Aber so wie es jetzt funktioniert, ist das System nicht in Ordnung. Finanzmärkte brauchen Aufsicht und Kontrollen. Es gibt soziale und kollektive Bedürfnisse, die nicht auf den Märkten ihren Ausdruck finden. Und wir haben in der repräsentativen Demokratie einen Mechanismus, der dem Allgemeinwohl dient. Den gibt es in der globalen Wirtschaft nicht.

Längst kommen die Warnungen vor der Allmacht der Banken und Finanzinstitute nicht mehr aus der Kuschelecke unverbesserlicher Sozialromantiker, sondern von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern, Nobelpreisträgern und Politologen. Wie die breite bürgerliche Bewegung der Attac suchen auch sie nach Wegen, wie die destruktive Kraft der globalen Geldindustrie, die nicht nur ganze Volkswirtschaften in Asien und Lateinamerika verwüstet hat, sondern durch ihre häufigen Fehlurteile und Manipulationen auch Kahlschläge in den Arbeitsmärkten der Industriestaaten hinterlässt, gebremst werden kann. In Deutschland hat der frühere SPD-Vorsitzende und kurzzeitige Finanzminister Oskar Lafontaine vor den fatalen Folgen der Globalisierung gewarnt und schärfere Kontrollen der Kapitalmärkte gefordert. Im Juni 2002 legte eine Enquete-Kommission des deutsche!! Bundestags, die unter dem Vorsitz von Emst Ulrich von Weizsäcker seit 1999 die Chancen und Risiken der Globalisierung beraten hat, einen 600 Seiten umfassenden Bericht vor. Sogar Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Verständnis für die Anliegen der Globalisierungskritiker geäußert.

Topbanker wie der frühere Deutsche-Bank-Vorstand Thomas Fischer melden mittlerweile Zweifel an der bisherigen Globalisierungsstrategie der internationalen Konzerne und Finanzinstitute an: Eigentlich hält doch kaum noch jemand den Globalisierungsprozess für gut, sagte Fischer, der 2001 seinen Job in der Deutschen Bank aufgegeben hat, in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Wir müssen endlich darüber reden, was überhaupt globalisiert werden soll. Globalisierung muss viel mehr sein als die Gründung von Filialen internationaler Konzerne. Wir dürfen auch nicht nur den Waren- und Kapitalverkehr globalisieren, sondern müssen auch den Rechtsstaat, die Demokratie, überprüfbare Institutionen verbreiten.

Es ist an der Zeit, dass auch die Regierenden in aller Welt ernsthaft darüber nachdenken, wie dem Streben der internationalen Banken und Finanzinstitute nach globaler Größe und unbeschränkter Macht Grenzen gesetzt werden können. Dem unkontrollierbaren Einfluss der unüberschaubaren Finanzimperien auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft muss Einhalt geboten werden.