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Die Banken als Geldvernichter und der große Crash am Neuen Markt

Die Banken haben sich am Börsenboom der vergangenen Jahre eine goldene Nase verdient und dabei zahlreiche Unternehmen aufs Parkett geführt, die heute kurz vor dem Konkurs stehen oder schon pleite sind. Die Aktienkurse sind im Keiler und zahlreiche Anleger können ihre Investments abschreiben, während die Banken auf fetten Einnahmen an Emissions- und Depotgebühren sitzen. Frage: Wie verdient man an der Börse ein kleines Vermögen? Die Antwort: Indem man seinem Anlageberater ein großes Vermögen anvertraut!

Es gibt Menschen, die über diesen Witz überhaupt nicht mehr lachen können. Vielen Aktionären des einstigen Börsenlieblings EM.TV beispielsweise ist das passiert: Wer erst im Frühjahr 2000 Aktien des damaligen Überfliegers gekauft hat, kann sein Kapital mittlerweile zu 99 Prozent abschreiben. Vom Höchststand im März 2000 von 115 Euro rauschte die Aktie des 1996 gegründeten Merchandising-Unternehmens in die Tiefe. Im Mai 2002 kostete sie gerade mal 1,40 Euro.

Die EM.TV-Geschädigten sind keineswegs die einzigen Opfer des brutalen Börsenspiels am Neuen Markt. Sie befinden sich in bester Gesellschaft: Auch den Aktionären von Infomatec, Intershop, Kabel New Media, Metabox, Comroad und vielen, vielen anderen Firmen geht es nicht besser. Selbst die Anteilseigner des Moorhuhn-Erfinders Phenomedia haben kürzlich einen finanziellen Blattschuss bekommen. Die Firma, die das wohl populärste Computerspiel der vergangenen Jahre entwickelt hat, ist pleite.

Fassungslos mussten die Anleger Zusehen, wie innerhalb weniger Monate ihr Vermögen, ihre Ersparnisse dahinschmolzen, ln enger Kooperation mit ihren Banken haben sich die Infomatec- Gründer Gerhard Harlos und Alexander Häfele, der Hamburger Medienunternehmer Peter Kabel, Internet-Pionier Stephan Schambach, der Metabox-Gründer Stefan Domeyer und viele andere als wahre Meister im Abkassieren von Privatkapital erwiesen. Insgesamt 200 Milliarden Euro wurden seit dem Frühjahr 2000 bis zum selben Zeitpunkt 2001 an der deutschen Wachstumsbörse verbrannt, das ergab eine Studie der Unternehmensberatung Accenture.

Das Milliardenfeuer hat viele Brandstifter. Die Banken haben glänzend verdient – an den Provisionen, die sie beim Aktienkaufrausch ihrer Kundschaft einstreichen konnten und besser noch an den Börsendebüts von jungen Unternehmen. Für die Vorbereitungen des Börsengangs und bei der Aktienemission wurden Millionenbeträge kassiert. Für die Kreditinstitute wurde der Neue Markt zum Goldesel.

Fondsverwalter haben ihre Kunden mit hochspekulativen Anlagen in immer riskantere Engagements gelockt. Allein im Jahr. 1999 flössen 110 Milliarden € in Fonds – mehr als im Jahr 1994 in diesem Segment insgesamt angelegt war, schreibt der ehemalige Fondsmanager Bruno Wagner in seinem Buch Burn Rate. Analysten lieferten immer gewagtere Empfehlungen und Prognosen, die von den zahlreichen neuen Börsenmagazinen und Finanzmarktpostillen begierig verbreitet wurden. Wer im März 2000 seine Spargroschen nicht in Aktien oder wenigstens in Fonds investiert hatte, galt als hoffnungsloser Versager.

Der große Crash am Neuen Markt
Bei dieser Börsenmania hatten die Kundenberater der Banken leichtes Spiel. Der alte Grundsatz, dass hohe Kursgewinne und Zinsen eine Entschädigung für hohe Risiken sind, geriet angesichts der rasanten Höhenflüge an den Börsen schnell in Vergessenheit. Genauso fix wurden bewährte Kennziffern der Unternehmensbewertung als Ballast der verschlafenen Old Economy über Bord geworfen: In der New Economy, bei den Internet-Start-ups und E-Business-Firmen, waren Gewinne spießig, Umsatzsprünge hipp und Verluste keine Schande, sondern Ausweis von dynamischem Wachstum. Die so genannte Cash-Burn-Rate – die Zeitspanne, in der ein Unternehmen eine Million Euro Anlegerkapital vernichten kann – wurde zur internen Messlatte der jungen Unternehmer. Die eingespielten Seilschaften zwischen Banken, Fondsgesellschaften und Brokern lieferten schließlich bei Bedarf immer wieder frisches Geld.

Im Geldrausch wurden auch Richtlinien im Bankgewerbe großzügig ausgelegt. So sind die Kundenberater von Sparkassen, Banken und Brokern eigentlich per Gesetz verpflichtet, den Anleger genau über die Risiken von Geldanlagen aufzuklären und auch seine finanzielle Lage, die Vermögensverhältnisse und die längerfristigen Anlageziele zu erkunden. Für jeden Kunden in diesem Segment soll ein möglichst detailliertes Risikoprofil erstellt werden. Dabei werden die Anleger einer von fünf Kategorien zugeordnet, die dann auch die Anlagestrategie für den speziellen Kunden bestimmt. Darum scherten sich die Anlageberater in der Boomphase hingegen nicht, sondern empfahlen bedenkenlos die gewagtesten Aktien zum Kauf.

Die fünf Risikoklassen bei Geldanlagen
In der Risikoklasse 1 geht es vor allem darum, das investierte Vermögen zu sichern. Dem Kunden werden Bundesschatzbriefe, Geldmarktfonds und festverzinsliche Unternehmensanleihen angeboten. In der Risikoklasse 2 kann auch in Rentenfonds, offene Immobilienfonds und Anleihen investiert werden.

Risikoklasse 3 verheißt dem Anleger höhere Gewinne, aber auch größere Gefahren. Es dürfen international gestreute Rentenfonds, spekulative Eurorentenfonds, internationale Standardaktienfonds geordert werden und der Kunde darf selber bei einem Online-Broker europäische Standardaktien kaufen.

Risikoklasse 4 gewährt fast alle Freiheiten, Geld am Aktienmarkt einschließlich europäischer Nebenwerte und internationaler Standardaktien zu investieren. Nur Rentenfonds und Aktien von Schwellenländern müssen außen vor bleiben.

Risikoklasse 5 schließlich ist die eigentliche Lizenz zum Zocken. Wer diese Kategorie wählt, muss damit rechnen, dass sein Geld in allen Börsensegmenten angelegt werden kann. Spekulative Geschäfte mit Massenprodukten auf Termin sind ebenso erlaubt wie Optionen und Futures, Anleihen auf Indexzertifikate. Das gesamte Arsenal der schnellen Geldvermehrung und Vermögensvernichtung steht diesen Kunden offen.

In der Praxis dürfte sich die Aufklärung über die Risiken allerdings vor allem auf die schlichte Frage konzentriert haben, ob der Kunde mehr am Einkommen interessiert sei oder am Wachstum seines Investments. Für die meisten Börsenanfänger war diese Gretchenfrage des Geldgewerbes schnell beantwortet. Wachstum klang gut für die unerfahrenen Erstaktionäre, deutlich besser als Einkommen. Schließlich ist immer von Wachstum die Rede, wenn es um Wirtschaft, Arbeitsplätze, Bruttosozialprodukt und Konjunktur geht. Was für die Unternehmen gut ist, kann für die eigene Geldanlage nicht schlecht sein. Einkommen – Risikoklasse 1 und 2 – roch für viele vom Börsenfieber Infizierte hingegen nach Mittelmaß, Steuern, Sozialabgaben und anderen unerfreulichen Dingen. Also lieber in die Vollen gehen und in Klasse 4 oder gar 5 einsteigen.

Blind ins Risiko
Eine intensive Belehrung über die Risiken, die bei den wachstumsstarken Titeln, die meistens von jungen Unternehmen stammen, viel größer ist als bei soliden Unternehmenswerten fand in den meisten Fällen nicht statt. Geblendet von den Kurssprüngen der vergangenen zwölf Monate waren im Frühjahr 2000, als die Boomphase an den Aktienmärkten ihren Höhepunkt erreicht hatte, viele Anleger blind für die Gefahren ihrer Engagements. Jetzt stehen die Schlauen von einst dumm
da – und sind aufgebracht.

Der Diplombetriebswirt Jürgen K. ist Mitglied eines privaten Investmentclubs, der ebenfalls vom Crash gebeutelt wurde: Man könnte weinen, wenn man die Kurse anschaut. Wir hatten in unserem Aktienclub überall Verluste, bei Technologiewerten, aber auch DaimlerChrysler, LVMH oder Biotech. Und man versteht es alles nicht, diese ganzen Sprünge in den Kursen sind überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, und dass die Unternehmen am Neuen Markt nun nur noch Pennys wert sein sollen, begreift man auch nicht.

Der Verlagsmanager Frank B. aus Essen, der ebenfalls zu den Opfern des Börsendebakels zählte, ist nach den erheblichen Vermögensschäden klüger geworden und fasst seine Erkenntnis so zusammen: Mit dem Neuen Markt ist eine ganz gute Sache ins Leben gerufen worden, aber die haben das nicht zu Ende gedacht. Denn es gibt keine richtige Haftung für Falschinformationen. Da werden von Banken und Unternehmen Umsatzprognosen und Gewinnmöglichkeiten genannt, und das auf reine Geschäftsmodelle. Die Geschäfte laufen ja noch gar nicht. Und einen Monat, nachdem so eine Firma an der Börse ist, wird alles wieder zurückgenommen. Wo bleibt da die Seriosität? Es gibt keine Rechtssicherheit für Kleinanleger.

Erfolglose Fondsmanager feuern Anleger
Eine besonders dreiste Geschichte erlebte der Hamburger Pensionär Jürgen H. mit der Hamburger Niederlassung der Credit Suisse. Der Diplomvolkswirt wollte mit den Renditen aus seinen Aktienanlagen sein Alterseinkommen aufbessern. Davon kann nun jedoch keine Rede mehr sein. H. wurde von seiner Bank nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen. Der frühere EU-Beamte ist wütend: Ich habe von der Börse die Nase voll. Im Dezember 1998 habe ich 735.000 € angelegt – mit äußerst mangelhaftem Erfolg: Allein im Jahr 2000 habe ich 26 Prozent meines Investments verloren.

Zu den größten Flops gehörten die Aktien eines kanadischen Softwareunternehmens, dessen Namen ich nie vorher gehört hatte, dessen Aktien mir aber von meinem Berater bei der Credit Suisse wärmstens empfohlen wurden. Ich stieg mit knapp 42.000 € im Dezember 1999 ein und Ende 2000 mit rund 1.900 € wieder aus. Drei Wochen nach dem Aktienkauf war der Kurs um 50 Prozent abgesackt, als er später für einen Tag um 50 Prozent nach oben schnellte, verpasste mein Berater den Ausstieg. Natürlich war ich auch Besitzer von Katastrophenpapieren wie Micrologica oder Freenet, die ich Ende 2000 mit Verlusten von 88 oder 98 Prozent abgestoßen habe. Da hatte mein Berater sogar wohlfeilen Rat parat: Zehn Jahre lang könnte ich die Verluste gegen Gewinne aufrechnen lassen und so Steuern sparen. Der Mann hat wirklich Humor! Ich bin fast 70 Jahre alt. Als H. seine Erfahrungen mit Bank und Börse in der Hamburger Wochenzeitung Die Woche veröffentlicht und wegen eines verlustreichen Optionsverkaufs Schadensersatz gefordert hatte, erhielt er Post von der Bank. Der Brief enthielt nicht etwa eine Entschuldigung der Banker für die schlechten Leistungen des Kundenberaters, sondern die Kündigung.

Die Credit Suisse eröffnete ihrem geschröpften Kunden, er möge sich nach einer neuen Bankverbindung Umsehen. Begründet wurde der Rausschmiss mit dem Vertrauensbruch, den H. begangen habe, als er seine Erlebnisse als Bankkunde in einer Zeitung veröffentlicht habe und wegen seines Begehrens auf Entschädigung.

Aktien auf Pump
In vielen Fällen sind nur die Ersparnisse dahin, doch so mancher Aktionär steht jetzt zudem bei der Bank, die ihn so eilfertig in den Abenteuerpark Börse mitgenommen hat, tief in der Kreide. Weil die Gewinne so sicher schienen, haben sich Anleger für ihre Aktienkäufe verschuldet und müssen nun auch noch Kredite abstottern. Viele der Geschröpften trauen sich nicht einmal, über ihre Verluste zu reden. Der Gastwirt aus einem bayerischen Dorf fürchtet den Spott seiner Kundschaft, wenn bekannt wird, dass er eine sechsstellige Summe mit EM.TV-Aktien in den Sand gesetzt hat. Der Gerichtsvollzieher aus einer westdeutschen Kleinstadt hat Angst vor beruflichen Konsequenzen, wenn herauskommt, dass er die Ersparnisse seiner Eltern nicht – wie versprochen – durch Aktienkäufe zur Aufbesserung der schmalen Renten vermehrt, sondern am Neuen Markt schlicht versenkt hat.

Der Börsencrash hat mittlerweile so manchen Aktionär an den Rand seiner Existenz getrieben. Ein solcher Härtefall ist der Fleischermeister Frank P. aus Dortmund. Wegen schwerer Allergien kann der Vierzigjährige seinen Beruf nicht mehr ausüben. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, hat er seit 1996 sein Erspartes am Aktienmarkt investiert und Papiere der Deutschen Telekom, Aktien von VW, DaimlerChrysler und Schering gekauft, nichts Exotisches, sondern konservative Standardwerte. Im Mai 1999 wurde er dann durch einen Börsenbericht des Nachrichtensenders ntv auf die Firma Infomatec aufmerksam. Die Augsburger IT- Firma hatte gerade einen 55-Millionen-€-Auftrag des Telekommunikationsanbieters Mobilcom bekannt gegeben.

P. begann sich für den kleinen Anbieter von Software zur Vernetzung von TV und Computer zu interessieren. Er studierte die einschlägigen Finanzmarktmagazine und holte Informationen bei seiner Sparkasse und der Dresdner Bank ein. Anlageberater und Medienberichte bescheinigten der Firma eine glänzende Zukunft. Im Juli 1999 – nach weiteren Jubelmeldungen von Infomatec – orderte P schließlich 230 Aktien der Firma – zum Gesamtbetrag von 90.945,70 €. Weil seine Ersparnisse fest angelegt waren, erwarb er die Aktien auf Pump, und zwar mit einem Kredit der Bank, die ihm auch die Infomatec-Anlage vermittelte.

Eigentlich hätten bei dem Kreditinstitut alle Alarmglocken läuten müssen, denn Aktienspekulation auf Pump gilt als äußerst riskant – noch dazu bei Papieren von jungen Unternehmen, die am Neuen Markt notiert sind. Doch im Sommer 1999 waren auch bei den Kundenberatern schon die Sicherungen durchgebrannt, das Warnsystem funktionierte nicht.

P. geriet mitten hinein in den Schlamassel: Im Juli 2000 begann der Kurs zu fallen, im November stürzte er ab. Sein Kapital war fast weg, der Kredit nicht. Die Schulden musste er weiter bedienen. Erst ein Urteil des Augsburger Landgerichts im September 2001 linderte den größten Verlust. Die Richter der 3. Zivilkammer sprachen ihm im September 2001 Schadensersatz von 100.000 € zu. Das Urteil war allerdings im Sommer 2002 noch nicht rechtskräftig, weil die Herren Harlos und Häfele gegen die Entscheidung des Augsburger Landgerichts Berufung eingelegt hatten.