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Alan Greenspan – der Zahlenflüsterer

In Greenspan we trust, heißt es an den amerikanischen Börsen. Damit hat er Gott und Gold als Retter in Finanzkrisen abgelöst. Alan Greenspan, Jahrgang 1924, ist Präsident der US-Notenbank, des Federal Reserve Board (FED), und gilt vielen als der mächtigste Mann der Welt, noch vor dem amerikanischen Präsidenten.

Im Gegensatz zu dem beruht Greenspans Macht aber nicht auf seinen tatsächlichen Befugnissen, er hat kein rotes Telefon und kann keinen Atomraketen den Startbefehl geben. Greenspans Macht basiert auf dem Vertrauen, das er sich mit seinen bisherigen Einschätzungen der Wirtschaft und mit den darauf beruhenden Entscheidungen erworben hat. Und das scheint der Finanzwelt eine solidere Grundlage und mehr wert zu sein als alle politische Macht.

Achtmal jährlich tagt das Federal Open Market Committee, das den Schlüsselzins für die amerikanischen Banken festlegt. In diesem Ausschuss hat Greenspan genauso wie die anderen elf Mitglieder auch nur eine Stimme. Wenn nach langen Vorträgen und ausführlichen Diskussionen die Entscheidungen gefällt wurden, ist er bisher jedoch noch nie überstimmt worden. Der Leitzinssatz und seine Veränderungen entscheiden darüber, ob der Motor der amerikanischen Wirtschaft rund läuft, sich überhitzt oder gedrosselt wird, mit allen Konsequenzen für die internationalen Börsen und für die Weltwirtschaft.

Greenspan spricht — und die Welt zittert
Sein Markenzeichen sind verklausulierte Reden zur Lage der Wirtschaft. Mehr als Fakten vermitteln sie mit ihrer Undurchschaubarkeit einerseits Langeweile und andererseits Gelassenheit. Das wirkte sich bisher immer beruhigend auf die Börse aus, und genau das ist Greenspans Absicht. Jedes seiner so raren Worte wird auf die Goldwaage gelegt, denn es kann eine seiner verschlüsselten Warnungen sein, welche die Börsen in Sekundenschnelle aufleben oder abstürzen lassen, der gefürchtete Greenspan- Effekt. Nichts verabscheut er jedoch so wie aufgeregte Hektik an den Börsen. Aus Angst, falsch zitiert und missverstanden zu werden, gibt er so selten wie möglich Pressekonferenzen. Schließlich weiß er um die Macht seiner Worte. Greenspan hat schon fünf Präsidenten gedient. Richard Nixon holte ihn 1970 von der New Yorker Geldmeile als persönlichen Berater nach Washington, nachdem Greenspan bereits seit 1968 als sein Wirtschaftsberater im Wahlkampf fungiert hatte. Gerald Ford setzte ihn 1974 bis 1977 als Chef seiner wirtschaftlichen Berater ein. Von 1981 bis 1983 war er Präsident der nationalen Kommission zur Reform der Sozialversicherung. Ronald Reagan machte ihn 1987 zum Chef der Federal Reserve. Auch Clinton und Bush nutzen weiterhin die Dienste des Republikaners.

Im Januar 2000 wurde Greenspan vom US-Senat mit großer Mehrheit für eine vierte Amtszeit gewählt, die im Juni 2000 begann und nach Greenspans 77. Geburtstag im Juni 2004 enden wird. Alan Greenspan gelang es, den längsten Wirtschaftsaufschwung in der Geschichte der USA zu entfachen und am Leben zu erhalten und den Vereinigten Staaten bei historisch niedrigen Arbeitslosenraten ein nahezu inflationsfreies Wachstum zu bescheren. Mit seiner Liquiditäts- und Zinspolitik ermöglichte er außerdem den Börsenaufschwung.

In den fünfziger Jahren gründete er als Sohn eines New Yorker Aktienhändlers eine Wirtschaftsberatungsfirma. Vor seiner Finanzkarriere spielte er als Student in verschiedenen New Yorker Jazz- und Swingbands Klarinette und Saxophon und soll sogar überlegt haben, Berufsmusiker zu werden. Heute ist es eines seiner Hobbys, die ihn fit für die Börse machen, so wie das Tennisspielen. Inzwischen weiß die ganze Welt, dass‘ er sich täglich zwischen halb sechs und sieben Uhr in die Badewanne legt, um dort Akten zu studieren, seine Post zu erledigen und seine Reden zu schreiben. In der Badewanne ist mein Intelligenzquotient 20 Prozent höher, sagt Greenspan selbst. Aber das allein kann nicht das Geheimnis seines Erfolgs sein. Er ist ein Zahlenfetischist.

Es heißt von Greenspan, er wisse genau, wie viele Schrauben in einem Auto stecken, und er wisse auch, welche Folgen es für die Volkswirtschaft hat, wenn pro Auto drei Schrauben weniger verarbeitet würden. Aus einer Fülle von Daten und Statistiken bezieht er sein Wissen, aus dem er dann seine Prognosen und Entscheidungen ableitet. Er und sein Mitarbeiterstab verfolgen regelmäßig rund 14 000 Datenquellen.

Statt sich in unzähligen Meetings zu verlieren, verbringt Greenspan seine Zeit lieber mit Lesen und Nachdenken. Sein Computer kann ihm auf Tastendruck die 50 wichtigsten aktuellen Statistiken des Landes aufru- fen. Greenspan besitzt offensichtlich die Fähigkeit, von Zahlen auf das wirkliche Leben schließen zu können. Gut bezahlt wird das Talent im Land der unbegrenzten Möglichkeiten allerdings nicht. Während die US- Firmenbosse die höchsten Gehälter der Welt einstreichen, bekommt Greenspan für seine Arbeit jährlich 161 239 Dollar. Bundesbankpräsident Ernst Welteke bezieht immerhin rund 375 000 Euro.

Das Geld kann für Greenspan nicht die Triebfeder seiner rastlosen Arbeit sein. Er selbst sagt, er sei süchtig nach der Arbeit. Die Faszination der Zahlen lasse ihn nicht los. Übrigens besitzt er selbst keine Aktien, sondern nur ein paar festverzinsliche Wertpapiere. So ist er auf jeden Fall gegen den Verdacht gefeit, sich mit wenigen Worten zum Millionär zu machen. Seine Äußerungen bleiben auch ohne dies wertvoll genug. Jeder seiner Vorträge ist etwa 22 000 Dollar wert, auch wenn die Zuhörer hinterher oft nicht wissen, was er wirklich gemeint hat.